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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie
Autoren: Paul Nolte
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diese wiederum in eine freizügige «offene Gesellschaft» nach dem Muster des Westens eingebettet werden können, ist jedoch noch alles andere als gewiss. Auch auf die Revolutionen von 1848 folgten Rückschläge und neue autoritäre Verhältnisse, nicht zuletzt in Deutschland. Die Demokratie der Institutionen, etwavon freien Wahlen und Parlament, durch eine gelebte und gefühlte Demokratie der Bürger abzusichern und zu erweitern dauerte auch im «Westen» oft viele Jahrzehnte, zum Beispiel in der Bundesrepublik seit 1949. Für westliche Überheblichkeit besteht aber schon deshalb kein Anlass, weil die eigenen politischen Zustände nicht mehr so gefestigt und selbstverständlich erscheinen, wie das gegen Ende des 20. Jahrhunderts, zumal nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa, der Fall war.
    Auch für diese neuen Zweifel verdient das Jahr 2011 einen Eintrag im Geschichtsbuch. Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 nehmen immer mehr Menschen die demokratische Politik als Spielball einer entfesselten kapitalistischen Logik von Profit und Spekulation wahr statt als Anwältin der Bürgerinteressen. Die Staatsschuldenkrise in der Eurozone und in den USA hat für viele den endgültigen Beweis einer Unterwerfung der Demokratie unter die Finanzmärkte und die Macht der Banken geliefert. Die gewählten Politiker und die Parlamente wirken bestenfalls hilflos und überfordert, schlimmstenfalls mit den Finanzinteressen im Bunde gegen die Wählerinnen und Wähler, deren Interessen sie doch eigentlich vertreten sollten. Die «Occupy»-Bewegung im Herbst 2011 brachte deshalb die Forderung nach Demokratie auch auf die Straßen und Plätze westlicher Hauptstädte und Finanzzentren, von New York bis nach Frankfurt und Berlin. Und immer häufiger begehren die Bürger jenseits der globalen Zusammenhänge von Politik und Wirtschaft auf, in ihrer eigenen Heimat, in ihrer städtischen und regionalen Lebenswelt. Wie bei den Protesten um das Bahnprojekt «Stuttgart 21» in Baden-Württemberg stellen sie Entscheidungen der Eliten in Frage. Ein demokratisches Mandat durch Wahl und Mehrheit genügt nicht mehr, um dem Handeln eines Bürgermeisters oder Ministerpräsidenten Glaubwürdigkeit und breite Akzeptanz zu verleihen. Die Demokratie wird zur Rechenschaft gezogen.
    In der neuen Figur des «Wutbürgers» hat sich diese Unzufriedenheit prägnant verdichtet. Der Begriff bringt mehr als ein momentanes Unbehagen zum Ausdruck. Wut staut sich auf, bevor sie sich Luft macht. Zur Vorgeschichte des Wutbürgers gehört deshalb eine über mindestens zwei, drei Jahrzehnte gewachsene Enttäuschung über die Mechanismen der klassischen demokratischen Politik. In der Bundesrepublik hat die Wahlbeteiligung schon in den 1970er Jahren einen historischen Höhepunkt überschritten. Politische Parteien tun sich schwer, jüngere Menschen als Mitglieder zu gewinnen. Die Distanz gegenüber demWahllokal und der Parteiversammlung verstärkt wiederum den Eindruck, Politik werde von «den anderen» gemacht. Sind Parlamentarier noch Volksvertreter, oder haben sie sich, gemeinsam mit hohen Bürokraten, Lobbyisten und anderen Eliten zu einer politischen Klasse verselbstständigt? Eine Kluft ist gewachsen, an deren fernem Ende die gewählten Politiker weniger als Repräsentanten der Bürgerinteressen erscheinen, sondern mehr wie eine Obrigkeit in vordemokratischen Zeiten, gegen die Freiheitsspielräume verteidigt oder zurückerobert werden müssen. Damit sind die Proteste in Westeuropa und Nordamerika von denen in der arabischen Welt gar nicht mehr so weit entfernt, wie es zunächst aussieht.
    In eine antidemokratische Bewegung ist das Unbehagen an der etablierten Demokratie jedenfalls nicht umgeschlagen. In Anlehnung an Sigmund Freuds «Unbehagen in der Kultur» von 1930 könnte man also sagen: Es handelt sich um ein neues Unbehagen nicht «an» der Demokratie, also ihr gegenüber und mit einer Alternative zu ihr, sondern um ein Unbehagen «in» der Demokratie, also geradezu: im Angesicht ihrer Unausweichlichkeit und Alternativlosigkeit. Denn wir können der Demokratie so wenig entkommen (wollen) wie der Kultur. Angesichts historischer Erfahrungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa in Deutschland während der Weimarer Republik, ist das alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil:
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