Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie
Autoren: Paul Nolte
Vom Netzwerk:
sondern spannungs- und konfliktreich und bisweilen gewaltsam.
    Schließlich ist die Geschichte der Demokratie immer auch
Krisengeschichte.
Das klingt zunächst vielleicht trivial, erinnert aber an zusätzliche Aspekte dieser Geschichte, hilft bei der Gegenwartsdiagnose und sagt etwas über die besondere Eigenart der Demokratie als Herrschafts- und Lebensform aus. Wenn man, wie das hier geschieht, die Konflikthaftigkeit demokratischer Entwicklung besonders betont, also den Streit um Demokratie, mit welchen Mitteln auch immer er ausgetragen wurde, dann sind die Krisen der Demokratie nicht weit entfernt. So gesehen, kehrt sich die Perspektive der «Erfüllungsgeschichte» geradezu um: Wir sehen nicht den unaufhaltsamen Aufstieg einer Idee, die unwiderstehliche Einlösung eines Versprechens, sondern eine stolpernde, eine unsichere, von innen und außen immer wieder in Bedrängnis geratende Demokratie. Das gilt schon früh und ganz unmittelbar: Die unabhängigen nordamerikanischen Republiken und das revolutionäre Frankreich mussten sich in Kriegen gegen die feindlichen europäischen Monarchien behaupten. Später war Hitlers Nazi-Deutschland kurz davor, die Demokratie von der europäischen Landkarte vollständig zu tilgen. Weniger spektakulär, aber nicht weniger gefährlich waren die inneren Krisen: Im 19. Jahrhundert lassen sich immer wieder Weggabelungen erkennen, an denen die Demokratie sich in Richtung einer verkrusteten Elitenherrschaft hätte entwickeln können, statt den Weg der Egalisierung und Inklusion zu gehen. So entwickelten die Sklavenbesitzer in den amerikanischen Südstaaten ihre ganz eigene Auffassung von «Demokratie».
    Die bisher tiefste innere Krise jedoch hatte ihr Zentrum in Europa während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Damals breitetesich die Überzeugung aus, die Demokratie habe den Höhepunkt ihres Lebenszyklus überschritten, weil sie mit der liberal-bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstanden sei und mit dieser auch wieder vergehen müsse. Dahinter nämlich erschienen die Umrisse einer zugleich wissenschaftlich-technokratischen und massenhaft-kollektiven Gesellschaft, die nach neuen Formen der autoritären Führung zu verlangen schien und individuelle Rechte gering achtete. Das rückt die gegenwärtige Krisenstimmung in Perspektive, denn verglichen mit der «großen Krise» der Demokratie vor etwa achtzig bis hundert Jahren weht heute nur eine leichte Brise der Skepsis – und nicht zuletzt: die explizite Alternative, die damals Diktatur hieß, fehlt heute. Aber die früheren Krisen können auch als Warnung gelesen werden, nicht vorschnell und ungeprüft von einer historischen Abenddämmerung der Demokratie zu sprechen. Denn ganz ähnliche Argumente haben freie persönliche und politische Verhältnisse schon einmal für historisch überlebt erklärt. Damals war eine vermeintlich nüchterne Analyse des Werdens und Vergehens von Demokratie in Wirklichkeit Angriff auf die Demokratie und Selbstpreisgabe. Jedoch kann sich die Demokratie deshalb gegen Kritik, auch gegen die schärfste Kritik, nicht immunisieren. Im Gegenteil, ihre Geschichte ist auch deshalb immer wieder eine Krisengeschichte, weil die Demokratie eine «schwache» Herrschaftsform ist, die sich selber dauernd in Frage stellt und noch ihre Gegner zur Kritik einlädt.
    *
    Wann und wo war die Geschichte der Demokratie? Sie vollzog sich zunächst in einem Stadtstaat, einer Polis, im östlichen Mittelmeer. Athen gehörte zu einer mediterranen und vorderasiatischen Zivilisation, die sich keineswegs als Teil, geschweige denn als Keimzelle des «Westens» sah, als die sie viel später oft vereinnahmt wurde. Im 17. und 18. Jahrhundert verlagerte sich das Gravitationszentrum in den nordatlantischen Raum, vor allem in die westliche Hälfte Europas und in die britischen Kolonien an der nordamerikanischen Atlantikküste. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ist dies der historische Kernraum demokratischer Ideen, Bewegungen und Regime gewesen. Hier liegt auch der räumliche Schwerpunkt dieses Buches, das keine Vorgeschichte der europäischen Demokratie sein will und auch deshalb den USA besondere Beachtung schenkt. Weil es sich zunächst vor allem an deutscheLeser wendet, kommt die Darstellung immer wieder auf die komplizierte Geschichte der Demokratie in Deutschland
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher