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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie
Autoren: Paul Nolte
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räumlicher Hinsicht. Während Republiken und (Proto-)Demokratien am Anfang des 19. Jahrhunderts exotische Ausnahmen darstellten, hat sich die Weltkarte seitdem in vielen Etappen demokratischer gefärbt. So entfaltet sich neben der inneren Erfüllungsgeschichte, also der Demokratisierung und Inklusion in einzelnen Gesellschaften, auch eine äußere der globalen Expansion. In postmodernen, aufklärungs- und fortschrittsskeptischen Zeiten sind viele Menschen – zumal im Westen – gegenüber dieser Perspektive kritisch, teils geradezu allergisch geworden. Wenn man die Erfüllungsgeschichte von ihrem geschichtsphilosophischen Ballast befreit, bleibt sie jedoch unverzichtbar, weil sie einen wichtigen Teil der empirischen Wirklichkeit einfängt. Dazu gehören auch bittere Konflikte und Kämpfe um das Versprechen der Demokratie. Harmonisch ging es bei denFortschritten der Freiheit kaum jemals zu. Und schließlich bleiben die ursprünglichen Anker dieses Versprechens auch ein kritischer Stachel in der Gegenwart. Wenn allen Menschen gleiche Freiheit zusteht, warum lebt dann in deutschen Städten seit Jahrzehnten ein großer Teil der Bevölkerung ohne allgemeines Wahlrecht?
    Dennoch – die Perspektive von Versprechen und Erfüllung reicht nicht aus. Die Geschichte der Demokratie war immer auch eine
Suchbewegung
in einer offenen Situation. Auch wenn radikale Visionäre im 18. Jahrhundert ihrer eigenen Zeit weit voraus waren, auch wenn sich an der Grundidee zentraler Institutionen wie des Parlaments seit zweihundert Jahren erstaunlich wenig geändert hat: Natürlich wusste damals noch niemand, wohin Idee und Praxis der Demokratie in den nächsten Generationen führen würden. Erst recht war die Situation immer wieder offen und voll von ganz neuartigen Herausforderungen, weil sich politische Herrschaftsformen seit der Amerikanischen und Französischen Revolution nicht in einer stabilen Gesellschaft weiterentwickelten. Im Gegenteil, es begann eine der tiefsten Umwälzungen der Menschheitsgeschichte: die Ablösung des europäischen Feudalismus durch individualisierte Marktgesellschaft und kommerziellen Kapitalismus; die Industrielle Revolution; der große Zug vom Land in die werdenden Großstädte; die Umwälzung von Kommunikation und Verkehr. Angesichts dieser stürmischen Veränderungen musste immer wieder neu überlegt werden, was Demokratie eigentlich heißen konnte. Neue Chancen standen offen, aber es bildeten sich auch neue Barrieren. Bürokratischer Staat und Großunternehmen standen für Hierarchie und Kontrolle, nicht für Gleichheit und Partizipation. Soziale Ungleichheit verschärfte sich – und gab zugleich Anstoß für die Suche nach neuer und erweiterter Demokratie für die Masse der lohnabhängigen Bevölkerung.
    So lässt sich der Sozialismus mit all seinen vielfältigen Ideen und Strömungen als die vielleicht wichtigste demokratische Suchbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts verstehen. «Es muss doch möglich sein», so lautete das Grundmotiv dieser und vieler anderer Fragen und Suchen immer wieder: Demokratie jenseits krasser Besitzunterschiede zu etablieren; sie nicht nur in der Politik, sondern auch im Betrieb anzuwenden; vielleicht auch: auf diesem Wege Herrschaft von Menschen über Menschen ganz verschwinden zu lassen. Die Suche führte an bisherige Grenzen der Demokratie und über sie hinaus. Das war ein schwieriges Unterfangen, denn das so erschlossene Neuland erwies sichoft als tragfähig für eine demokratische Erweiterung, teils aber auch als Nährboden für ganz andere politische Regime und sogar für eine neue Unfreiheit. Für die Aporien dieser Suche steht besonders der Weg Lenins und des russischen Bolschewismus in die kommunistische Diktatur. Das Suchprinzip als solches war damit jedoch nicht diskreditiert; die Demokratie nicht zur Erstarrung in ihren bürgerlichen Formen um 1900 gezwungen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist voll von neuen Anläufen und Experimenten, Freiheit und Partizipation zeitgemäße und effektive Gestalt zu geben. Das wichtigste Feld dieser Suche bildet die Demokratie des Protests, der sozialen Bewegungen und der Zivilgesellschaft, mit der die Demokratie von Parteien und Parlamenten um heute unverzichtbare Dimensionen erweitert wurde. Auch dabei ging es – und geht es bis heute – nicht harmonisch zu,
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