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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie
Autoren: Paul Nolte
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Über Frustration und Wut hinweg bildet der Wunsch nach einer Einlösung demokratischer Versprechen ein Leitmotiv der neuen Proteste. Demokratie, so wie sie ist, wird gewogen und für zu leicht befunden. Ob die Bürger in den letzten Jahrzehnten tatsächlich politischen Einfluss verloren haben, den sie früher schon einmal besaßen, oder ob Parlamentarier sich von den Bürgern weiter entfernt haben, ist nicht leicht zu sagen. Zugleich sind nämlich die Erwartungen an demokratische Regierungssysteme gestiegen ebenso wie an das Engagement von Bürgern, deren demokratische Rolle sich nicht mehr in der des Wählers erschöpft.
    So drückt sich in der neuen Unzufriedenheit mit der (repräsentativen, parlamentarischen) Demokratie nicht so sehr deren politische Erstarrung aus, sondern eher die Dynamisierung demokratischer Erwartungen und Handlungsformen im Westen seit den 1970er Jahren. Parteiensysteme haben sich keineswegs als verkrustet erwiesen, sondern als wandlungsfähig und offen für Innovationen – Deutschland ist ein besonders wichtiges Beispiel dafür, mit dem Aufstieg der Grünen, der Etablierung der Linkspartei und vielleicht neuerdings mit den «Piraten».Die Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern in öffentlichem Protest und ihr Zusammenschluss jenseits von Parteien – von der Bürgerinitiative im Stadtviertel bis zu den «Global Players» der Zivilgesellschaft wie Greenpeace, Human Rights Watch oder attac – ist nicht nur ein Vehikel der Forderung nach mehr und anderer Demokratie. Mobilisierung, Vernetzung und bürgerliches Selbstbewusstsein sind vielmehr selber Ausdruck von Veränderung und Vitalität der Demokratie.
    Jedenfalls ist die Lage am Beginn des 21. Jahrhunderts keineswegs so eindeutig, wie die Triumphgefühle der einen oder die Verzweiflung bei anderen nahelegen mögen. Eindeutig ist nur, dass die Demokratie, die nach 1945 gerade in Deutschland klar umrissene Grenzen zu haben schien, jetzt unsicherer, amorpher, vielgestaltiger geworden ist. Die «freiheitlich-demokratische Grundordnung»: Man hatte sie, oder man hatte sie nicht. Die den Deutschen zuvor so lange flüchtige Demokratie war nun endlich im Grundgesetz eingehaust, und es galt, sie gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Diese Perspektive hat 1989/90 ihren Höhepunkt erreicht, mit der Ankunft der ehemaligen DDR-Bürger in der bundesdeutschen Demokratie. Im ganz unzweifelhaften Gewinn, den der Sturz von Diktaturen und die Demokratisierung Ostmitteleuropas bedeuteten, sind aber die inneren Wandlungen der westlichen Demokratie zu wenig beachtet worden. Auch ihre äußeren Bedingungen haben sich geändert, seit die goldenen Nachkriegsjahrzehnte von stetig wachsendem Wohlstand und sozialer Sicherheit vor einer Generation zu Ende gegangen sind. Eine neue Dynamik des globalen Kapitalismus hat Wohlstand in andere Teile der Welt getragen, im alten Westen aber Ungleichheiten verschärft. An die Stelle kollektiver Verbindlichkeiten und öffentlicher Leistungsgewährung sind Kommerzialisierung und eine Freisetzung des Individuums getreten. Die politischen Wirkungen sind kompliziert, wie das Beispiel der Individualisierung besonders eindrücklich zeigt: Menschen fallen durch die nicht mehr so engen Maschen sozialer Netze und politischer Zugehörigkeit, aber sie haben seit den 1970er Jahren auch neue Freiheit und neue Handlungsmacht gewonnen. So sind nicht zuletzt die Frauen erst seit dieser Zeit in vollem Sinne in die Demokratie eingetreten, obwohl sie schon ein halbes Jahrhundert über das Wahlrecht verfügt hatten.
    *
    Wenn diese Veränderungen so mehrdeutig, so vielschichtig sind, ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme von Geschichte und Gegenwart der Demokratie jenseits der vorschnellen Urteile. Auch die Wissenschaftler sind sich derzeit nicht einig in ihren Diagnosen. In der Politikwissenschaft, vor allem in der politischen Theorie, folgen manche den Frustrationen und der Demokratieermüdung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, vor allem der jüngeren Generation. Danach hat die westliche Demokratie am Anfang der 1970er Jahre einen Höhepunkt überschritten und befindet sich seitdem in Abstieg und innerer Entleerung. Neoliberalismus und kapitalistische Globalisierung haben, dieser Sichtweise zufolge, nicht nur eine tiefe Krise demokratischer Herrschaft und bürgerlicher Partizipation ausgelöst,
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