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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30
Autoren: Martin Clauß
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    Im Oktober des Jahres 1900, ein herrschaftliches Haus in Schramberg im Schwarzwald
    „Der Tee … wo bleibt … der Tee?“ Die Stimme klang dünn und hohl aus der Tiefe des Hauses. Eine Stimme, die nicht zum Schreien geschaffen war, die immer nur schwach wirkte, ganz gleich, was und wie sie es sagte. Die die Tür zu Edeltrauds winzigem Zimmer kaum zu durchdringen vermochte, dieses schwere eichenhölzerne Portal. In diesem Haus waren die Türen der Dienstbotenzimmer robuster als anderswo die Haustüren. Wozu hausten so fadenscheinige, halbtransparente Menschen hinter so mächtigen Wänden und Türen? Trugen sie ihre Häuser wie Rüstungen, damit der Wind ihr morsches Dasein nicht verwehte?
    Die junge Frau biss die Zähne zusammen, als sie die Seite umblätterte. Noch zehn oder fünfzehn Zeilen, dann war das Kapitel zu Ende. Kaum etwas auf dieser Welt konnte sie davon abhalten, ein Kapitel in einem Buch fertigzulesen, keine Naturgewalt, nicht Tod noch Teufel, und schon gar nicht ein ungeduldiger alter Mann, der für acht Mark Monatslohn erwartete, dass sie wie die gute Fee aus dem Märchen ständig um ihn herumschwebte, ihm jeden Wunsch von den Augen ablas und mit einem Zucken des Zauberstabs noch im selben Augenblick erfüllte.
    Ihr Finger fuhr den letzten Satz entlang, ihre Lippen lasen ihn flüsternd. Dann legte sie das blutrote Lesebändchen zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und stellte es zurück an die Wand. Erst jetzt erhob sie sich.
    Als sie ihrem winzigen Lesetisch bereits den Rücken zugewandt und die Hand auf die Türklinke gelegt hatte, verharrte sie in der Bewegung. Drehte sich noch einmal um.
    Auf dem Tisch, an dem sie eben gesessen hatte, bewegte sich etwas Schwarzes. Es war groß, beinahe so groß wie eine schwarze Kirsche, etwa eine von Edeltrauds geliebten Grafenburgern. Aber Kirschen liefen nicht auf sechs haarigen Beinen über die Tischplatte.
    Es gab nicht vieles, wovor sich Edeltraud ängstigte. Käfer gehörten dazu, vor allem dicke schwarze wie dieser. Seit ihrem Erlebnis auf Falkengrund ging sie den dunklen kalten Gesellen aus dem Weg, die ihr Skelett außen trugen und dumm und mechanisch durch die Welt krabbelten, kleine, seelenlose Maschinen der Natur. Das Meer aus solchen Käfern, das sie vor zwei Jahren über den Körper von Charmaine Morice hatte fluten sehen, verblieb als bewegtes Bild in ihr wie einer dieser sogenannten Filme, die die Gebrüder Lumière mit ihrem Cinématographe geschossen hatten. Dieser Film in ihrem Geist gehörte fest zu ihrem Leben und bildete ein mächtiges Gegengewicht zu den angenehmeren Szenen ihrer Erinnerung. Ja, es kam ihr so vor, als gewönne das Erlebnis mit den Käfern mit jeder der zahlreichen Gratis-Vorstellungen in ihrem Kopf an Einfluss und lösche eine ihrer Erinnerungen nach der anderen aus. Sie konnte nicht verhindern, dass der innere Film sich wieder und wieder abspulte.
    „Edeltraud, du faules Ding!“, kam es von der anderen Seite der Tür. Aber die andere Seite der Tür war weit weg. Der alte Mann hätte ebenso gut von einem anderen Land aus rufen können, jenseits von Bergen und Wäldern.
    Der Käfer war denen, die sie auf Falkengrund gesehen hatte, mehr als nur ähnlich. Es war die gleiche Sorte.
    Der eisige Finger eines Toten schien über ihre Wirbelsäule hinabzuwandern.
    Wenn sie jetzt wegrannte, würde sie nie mehr in diese Kammer zurückkehren können. Wie sollte sie Schlaf finden auf einem Bett, unter dem sich wahrscheinlich diese schwarzen Bestien tummelten?
    Sie hielt den Atem an, ging zum Tisch zurück, auf Zehenspitzen, damit das Tier die Erschütterungen nicht spürte. Es blieb an der Tischkante sitzen, als überlege es, wohin es sich als nächstes wenden sollte. Was willst du hier? , fragte Edeltraud in Gedanken. Erinnerst ihr euch vielleicht an mich? Ist mein Geruch in euren winzigen Gehirnen gespeichert, gemeinschaftlich, als wärt ihr, eure Vorfahren und eure Nachkommen nur ein einziges großes Ungeheuer? Werden deine Urenkel meine Kinder erkennen, falls ich je welche habe? Edeltraud war eine Frau, deren Denkapparat niemals stillstand, die unablässig neue Gedankenfäden spann, auch in Situationen der Gefahr und des Schreckens – da ganz besonders.
    Ihre Hand schoss vor, griff nach dem Buch und holte damit aus. Mit einem Schlag, in den sie alle Kraft und einen gewaltigen schrillen Schrei steckte, schmetterte sie das Buch auf den Tisch.
    So. Dieser eine hier würde jedenfalls keine Nachkommen mehr in die Welt setzen,
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