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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30
Autoren: Martin Clauß
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Spross einer Aargauer Familie machten die häufigen Besucher regelmäßig das grüne Gift zum Geschenk.
    Sie betrank sich am frühen Nachmittag und brach nach Falkengrund auf. Wie ihr Herr, so hatte auch sie auf exotische Trinkrituale verzichtet. Die Schweizer mischten einfach mit Wasser, und sie tat es ebenso, nur dass sie etwas weniger Wasser dazu nahm. Beim zweiten Gläschen ließ das Brennen in der Kehle nach und verlagerte sich auf den Bauch.
    Als sie das Haus verließ, war sie so furchtlos, so pflichtbesessen und so blau wie ein Haufen preußischer Offiziere. In diesem Zustand wäre sie in die Hölle hinabgestiegen, hätte dem Leibhaftigen die Zigarre aus dem Mund gerissen und ihm Rauchringe über die Hörner geblasen. Falkengrund – das war doch ein Landhaus wie alle anderen, zum Kuckuck nochmal!
    Während ihr Herr noch mit beschlagenen Brillengläsern über seinem frühen Abendsüppchen kauerte und nichts von dem Abenteuer seines Dienstmädchens ahnte, schwankte sie durch die Straßen von Schramberg zum Marktplatz und nahm sich dort eine Kutsche nach Wolfach. Auch Geld hatte sie stibitzt, und die blinkenden Groschen waren es letztlich, die den Kutscher überzeugten, dass es geradezu einen Akt der Barmherzigkeit darstellte, ein betrunkenes, plapperndes Dienstmädchen durch den Schwarzwald zu fahren.
    In der Dämmerung passierten sie Wolfach und erreichten wenig später Schloss Falkengrund. Der junge Kutscher schien noch keine der Geschichten gehört zu haben, die man sich über das Gemäuer erzählte, und wünschte ihr freundlich einen guten Aufenthalt. Edeltraud, die die Absinth-Flasche bei sich trug, schenkte ihm als Dank ein Gläschen ein. Sie selbst nippte nur ein wenig daran. Und schickte ihn dann weg.
    Die Dämmerung schritt fort, das Haus warf einen gewaltigen Schatten auf sie.
    Ja, das Unbehagen kehrte jetzt zurück. Der Käfer-Film lief wieder ab, in einer unbarmherzigen Endlosschleife. Die triste Front des Hauses wirkte desinteressiert, das Portal schien überheblich zu grinsen wie ein schmaler, hoher Mund. Durch die Fenster des Erdgeschosses drang ein unstetes Licht, das sie nicht einzuordnen vermochte. Selbst Kerzen oder Öllampen im Wind erzeugten kein solches pulsierendes Flackern. Um die bösen Erinnerungen zu überdecken, die dieses Gebäude in ihr weckte, hätte sie so viel Absinth trinken müssen, dass sie auf der Schwelle eingeschlafen wäre. Gewiss war es klüger, Angst zu haben, als in einem Garten zu schlummern, in dem Zigtausende von Käfern krochen.
    Der Kutscher winkte ihr ein letztes Mal zu. Sie war ein Dummkopf, dass sie ihn fortgeschickt hatte. So machte man Fehler, jeden Tag seines Lebens. Und irgendeiner davon brachte einen ins Grab. Menschen würden ewig leben, wenn sie und ihre Körper nur endlich aufhörten, Fehler zu machen.
    Sie standen sich gegenüber, Falkengrund und die junge Frau. Die Natur hielt den Atem an, wartete. Gott der Herr war über ihr, der Widersacher unter ihr. Gott sah Falkengrunds Dach und Edeltrauds dunkle Haare mit den beiden Zöpfen. Der Teufel sah Falkengrunds Kellerfundament und Edeltrauds Schuhsohlen. Nur sie, der Mensch, sah die Front des Hauses. Wenn man es so betrachtete, dann bekamen Gott und der Satan nicht sehr viel mit von dem, was in der Welt geschah. Eigentlich konnten sie sich aus ihrer Perspektive kein Urteil erlauben. Aber vermutlich hielt sie das nicht davon ab, dennoch in den Lauf der Dinge einzugreifen.
    Sie verkniff es sich, nach Samuel zu rufen oder den Türklopfer zu benutzen. Sicher – im Inneren des Hauses würde man die Kutsche vermutlich gehört haben, das Knallen der Peitsche, die Kommandos des Kutschers, aber falls nicht, war es umso besser.
    Sie hatte das Gefühl, die Tür würde nicht verriegelt sein. Und so verhielt es sich auch. Nahezu lautlos ließ sie sich öffnen. Ein Schritt, und die Frau stand inmitten der gewaltigen Eingangshalle.
    Was würde sie sagen, wenn man auf sie aufmerksam wurde? Wem würde sie als Erstes gegenüberstehen?
    Vor rund zwei Jahren hatten nur fünf Personen hier gelebt: Konrad Winkheim, ein erfolgloser Illusionist, der sich in den Kopf gesetzt hatte, hier eine Schule des Okkulten aufzuziehen, Charmaine Morice, seine französische Freundin (die Frau mit den Käfern!), Samuel Rosenberg, der das Schloss ein Jahr zuvor gekauft hatte, ein Diener namens Vinzenz, sowie ein blässlicher junger Bursche namens Erwin, der erste Schüler der im Entstehen begriffenen Schule. Edeltraud hätte die zweite
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