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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie
Autoren: Paul Nolte
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Rolle? Was bedeutet es, wenn Bürgerinnen und Bürger nicht mehr primär – wie in der klassischen Demokratie – für ihre eigenen Interessen kämpfen, sondern für die Interessen anderer, die selber nicht sprachfähig sind? Aus der klassischen, vor allem repräsentativen Demokratie ist eine vielfältige, eine multiple Demokratie geworden.
    Für das Verhältnis von Dauer und Wandel, von Stabilität und Veränderung interessieren sich Historiker immer. In der Geschichte der Demokratie wird man da gewiss fündig. Die Ideen und Grundprinzipien gleicher Freiheit, freier Regierung und freier Lebensführung haben sich als erstaunlich dauerhaft erwiesen, über allen gesellschaftlichen Wandel hinweg, und in sehr unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Trotzdemmuss man sich hüten, darin so etwas wie anthropologische Universalien, also Grundbedingungen der menschlichen Existenz überhaupt, zu sehen. Nicht nur sind diese Ideen höchst unterschiedlich interpretiert worden; an vielen Orten und über lange Strecken waren sie auch in der europäischen Geschichte weithin unbekannt. Bemerkenswert ist auch die Stabilität praktischer und institutioneller Arrangements der Volksherrschaft: etwa der Gewaltenteilung oder des Parlamentarismus. Ihre Ablösung oder Neuerfindung ist auf absehbare Zeit unwahrscheinlich – und doch steht der institutionellen Kontinuität eine permanente Herausforderung und Erneuerung durch soziale Bewegungen gegenüber, die nicht erst seit dem späten 20. Jahrhundert ihre Fragen an die «etablierte» Demokratie richten.
    Das Wirken solcher sozialen Protest- und Reformbewegungen lässt sich mindestens bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen und bildet ein Leitmotiv dieser Geschichte der Demokratie. Ältere Schichten der Demokratie verschwinden nicht, sondern werden durch neuere ergänzt und «überschrieben». In der Gegenwart der Demokratie ist deshalb ihre Geschichte «aufgehoben» – nicht so sehr im dialektischen Sinne, sondern im Sinne eines Palimpsests: eines alten Schriftstücks, das immer wieder neu beschrieben wird, ohne dass die älteren Schichten ihre Lesbarkeit und Präsenz verlieren. Aber das Verhältnis von Dauer und Wandel hat auch eine normative Komponente. Demokratie kann uns nicht gleichgültig sein, weil sie die Existenzgrundlagen unserer freien Lebensverfassung betrifft. Sie ist offen, historisch kontingent, extrem flüssig – und doch offenbar nicht beliebig.
In
der Demokratie fällt es schwer, sie zu definieren. Wo sie abhanden gekommen ist, sind die Defizite offensichtlich, und die Forderungen nach ihr klingen überall auf der Welt gleich: Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen, unabhängige Gerichte, Schutz vor willkürlicher Verfolgung.
    Darin scheint ein weiteres Spannungsfeld auf, das die Geschichte der Demokratie seit der Antike begleitet hat und als roter Faden dieses Buches immer wieder aufscheinen wird. Demokratie ist, einerseits, in ihrem Kern eine Verfassung der politischen Freiheit und Selbstregierung. Wo diese zentrale Dimension von Demokratie in Frage gestellt oder auch nur relativiert wurde, haben nicht nur die politischen Rechte und Freiheiten Schaden genommen. Die politische Demokratie – man könnte auch sagen: die «bürgerliche Demokratie» – lässt sich nicht gegen andere Typen von Institutionen oder Rechten aufrechnen. In der DDR hieß es gerne: Ihr habt politische Rechte, wir haben soziale Rechte,also sind wir mindestens quitt – oder sind die sozialen Rechte nicht sogar für die Menschen wichtiger? Diese Rechnung ist in der Geschichte der Demokratie niemals aufgegangen; im Extremfall bezeichnet sie den Unterschied zur Diktatur. Und doch ließ sich Demokratie noch nie auf die politische Verfassung, auf Herrschaft und Regierung im engeren Sinne einschränken, sondern drängte immer darüber hinaus. Die athenische Demokratie war einerseits eine ungemein «politische» Sache: Sie galt für die Polis, nicht für andere Lebensbereiche, in denen der Bürger Ehemann, Haushaltsvorstand, Handwerker oder Bauer war. Andererseits durchdrang die Demokratie schon damals weite Bereiche der Lebensführung, und die Bürger-Identität war nicht auf ein enges Segment politischen Handelns zu begrenzen. In modernen Gesellschaften entspricht dem die Spannung zwischen Demokratie als Herrschafts- und
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