Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was im Dunkeln liegt

Was im Dunkeln liegt

Titel: Was im Dunkeln liegt
Autoren: Diane Janes
Vom Netzwerk:
Songtexte. Jeder, von Meat Loaf bis zu Lionel Barts Oliver , bekundet seine Absicht, alles zu tun  –  absolut alles für das Objekt seiner Zuneigung. Would you risk the drop?   –  Würdest
du den Galgen riskieren?, fragt Nancy in dem Lied. Alles , säuselt der vernarrte Waisenjunge. Nicht den Galgen natürlich. Das nicht gerade. Seit 1972 werden Menschen nicht mehr gehenkt.
    Mit halbem Ohr und freundlichem Nicken lausche ich Marjories Lobgesang. Marjorie betrachtet dies alles als eine Art Sieg. Ich habe keine Kinder, deshalb kann ich nicht mitreden. Sie dreht sich um, um ihr Handtuch zusammenzufalten. Sie ist jetzt vollständig bekleidet: Hose im Schottenkaro und pastellfarbenes Poloshirt, beste Qualität aus der noblen Edinburgh Woollen Mill. Die Tatsache, dass ich bereits die gleiche Unterwäsche wie diese Frau wähle, ist womöglich ein erschreckendes Omen für die Dinge, die da noch kommen werden. Ich bin schon beim vernünftigen Schuhwerk angelangt. Mein Gott, ehe ich mich versehe, werde ich zu einem Wesen aus Faltenrock und Regenmantel mutieren.
    Ich bin erleichtert, Marjorie entfliehen zu können. Normalerweise ist sie schlimmstenfalls nur ein wenig lästig, doch heute ist sie in ein gefährliches neues Terrain getrampelt, hat die Tür zu einem »Gelegentlich« aufgebrochen  –  einer dieser immer seltener werdenden Augenblicke harter Realität, der durch irgendeine unerwartete Erinnerung ausgelöst wird: ein unschuldiges, eigentlich gar nicht damit in Zusammenhang stehendes Stichwort, eine Passage aus einem Song, eine Schlagzeile in einer Zeitung. Vor wenigen Wochen passierte das auf einer belebten Straße. Vor mir ging ein großer junger Mann mit welligem dunklem Haar und einer Lederjacke, die an den Ellbogen abgewetzt und krumpelig war. Ich öffnete den Mund, um zu rufen. Und schloss ihn wieder. Danny wäre heute kein junger Mann mehr. I look, but you’re not there  …

    Der Fußmarsch vom Freizeitzentrum zu meiner Wohnung dauert zwölfeinhalb Minuten. Der Postbote hat bereits seine tägliche Handvoll Müll durch meinen Türschlitz geworfen. Oben auf dem Stapel liegt der bunte Flyer eines Möbelgeschäfts  –  die Art von Werbung, die man achtlos weggeworfen auf dem Gehsteig liegen sieht. Heute Morgen habe ich einen garantierten Bargeldpreis gewonnen, bin auserwählt, an einer speziellen Urlaubswerbekampagne teilzunehmen, und für würdig erachtet worden, für beides eine Kreditkarte und einen Kredit zu beantragen. Machine Mart und die Hawkshead-Bekleidungsfirma haben mich beide mit ihrem neuesten Katalog beglückt, während eine Wohltätigkeitsstiftung, von der ich noch nie etwas gehört habe, meine Unterstützung mittels eines deprimierenden Fotos von unterernährten Afrikanern erbittet.
    Zuunterst im Stapel befindet sich ein schlichter weißer Umschlag, von Hand adressiert. Während ich alles andere aufsammle, lasse ich diesen Umschlag aus irgendeinem Grund auf dem Dielenteppich liegen, von wo aus er mich vorwurfsvoll anstarrt, als würde ich ihn absichtlich ignorieren. Ich muss mich extra bücken, um ihn aufzuheben, und die andere Post in die Hand nehmen, in der ich meinen Schwimmbeutel halte, sodass dieser Brief getrennt vom Rest in die Küche getragen wird und dadurch bereits einen besonderen Status erlangt.
    Ungeöffnet gegen das stumme Radio gelehnt, versucht der Brief mit seinem gewöhnlichen Stempel und der verschmierten Briefmarke meinen Blick auf sich zu ziehen. Die Handschrift ist altmodisch, mit lang gezogenen Schlaufen am y und f von Mayfield. Alle Buchstaben neigen sich nach rechts, gleichförmig wie Formationstänzer,
und haben dabei etwas Zittriges an sich, als hätten manche von ihnen zu viel Zeit in der Kneipe verbracht.
    Nicht willens, vor der selbstgefälligen Attitüde, die dieser Brief angenommen hat, zu kapitulieren, schenke ich mir meinen Saft ein, sortiere und entsorge meine andere Post, lege Brot in den Toaster und greife zur Marmelade.
    Ich kenne die Schrift. Habe sie sofort wiedererkannt. Wir schicken uns jedes Jahr Weihnachtskarten. Ein seltsames Ritual  –  und meine eigene Schuld, dass es beibehalten wurde. Ich hätte es schon vor Jahren beenden können  –  hätte einfach versäumen können, eine neue Adresse anzugeben. Warum habe ich das nicht getan? Aus Schuldgefühl? Angst? Um den ultimativen Beitrag zur nicht existierenden Normalität zu leisten? Seit mehreren Jahren frage ich mich nun, wenn ich ihr eine Karte schreibe, ob ich eine von ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher