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Was im Dunkeln liegt

Was im Dunkeln liegt

Titel: Was im Dunkeln liegt
Autoren: Diane Janes
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zurückbekommen werde. Sie muss jetzt weit über achtzig sein. Eines nicht allzu fernen Jahres wird es keine Karte mehr geben. Dann kann ich aufhören, meinerseits eine zu schicken.
    In meinem Kopf singt wieder Cat Stevens: I’m always thinking of you, always thinking of you …
    Jedes Jahr rechne ich damit, dass die Karten aufhören, doch sie kommen weiterhin. Weihnachtsgrüße. Jeden Dezember. Nie eine Karte im Frühling. Niemals eine im April. Und diesmal ist es auch keine Karte  –  das Kuvert gehört zu der Sorte, wie es in Briefpapiersets geliefert wird: schlicht und weiß, mit passendem Papier. Sehr zweckmäßig, nicht überspannt. Warum sollte sie mir schreiben? Wir haben uns nie Briefe geschrieben  –  nur Karten; einfach eine Karte zu Weihnachten, wie man das bei flüchtigen Bekannten so macht. Sie gelangen irgendwann auf deine Liste, und du schickst ihnen Jahr für Jahr eine Karte
in dem Wissen, dass ihr einander wahrscheinlich nie wieder begegnen werdet.
    Ich lasse den Umschlag warten, bis ich mein Frühstück beendet und meinen Badeanzug ausgespült habe. Er bleibt ungerührt an seinem Platz, beinahe schon höhnisch. Ich kann ihn nicht auf unbestimmte Zeit vor mir herschieben.
    Im Kuvert befinden sich zwei Bögen unliniertes Papier, ein jeder nur auf einer Seite beschrieben und einmal gefaltet. Selbst während ich sie herausziehe und glatt streiche, kann ich mir noch immer keinen Grund vorstellen, weshalb sie zu dieser Kommunikationsform greifen sollte. Alles, was uns einst verbunden hat, ist lange vorbei.
    Der Absender am oberen Rand ist derselbe wie seit zehn Jahren.
    Liebe Katy   –  ein Windstoß aus der Vergangenheit, um uns Starthilfe zu geben. Niemand nennt mich heutzutage noch Katy. Kate  –  das bin ich. Kurz, knapp, beinahe ein wenig schroff.
     
    Liebe Katy,
    ich hätte gern, dass Sie mich besuchen. Vielleicht könnten Sie mir brieflich einen geeigneten Termin nennen, da ich am Telefon Schwierigkeiten mit dem Hören habe. Ich komme selbstverständlich für alle Ausgaben auf, die für die Reise anfallen, einschließlich einer Taxifahrt vom und zum Bahnhof.
     
    An dieser Stelle geraten die langen, schrägen Buchstaben in Platznot. Als ich zur zweiten Seite übergehe, frage ich mich, warum sie glaubt, ich würde mit dem Zug fahren. Vermutlich ist ihr nie in den Sinn gekommen, dass ich meine Fahrprüfung bestanden haben könnte. Ich ertappe mich dabei, wie ich bei der praktischen Seite der Reise
verweile, weil dies ein weit ungefährlicheres Feld für Überlegungen ist als die Frage, warum sie mich überhaupt sehen will.
     
    Ich bin überzeugt, dass Ihnen klar ist, was ich mit Ihnen besprechen möchte und warum. Bitte kommen Sie, sobald es Ihnen möglich ist, da ich herausfinden muss, was mit meinem Sohn passiert ist.
     
    Mit freundlichen Grüßen
E. J. Ivanisovic
     
    Die Buchstaben verschwimmen, und so lege ich sie auf den Tisch, wo sie wild herumhüpfen, um, wann immer ich einen Blick auf sie werfe, wieder bei der Stelle was mit meinem Sohn passiert ist anzukommen. Ein Feuerwerk zischt und blitzt in meinem Kopf.
    Es ist wie die Dreierregel im Märchen: Alles kommt immer dreimal vor  –  drei kleine Schweinchen, drei Bären, zwei hässliche Schwestern plus Aschenputtel macht ebenfalls drei. Zwei dumme Stichwörter von Marjorie plus dieser Brief. Marjorie ist der Meinung, Mord sei genial. Sie glaubt, Taten im Namen der Liebe seien immer gut.
    Was glaubt Mrs Ivanisovic? Was weiß sie? Warum stellt sie jetzt Fragen  –  nach so langer, langer Zeit?
    Es ist zu spät, um den Brief ungeöffnet und mit der Aufschrift »unbekannt verzogen« zurückgehen zu lassen. Warum, warum nur habe ich den Kontakt aufrechterhalten? Ich hätte ihn schon vor Jahren abbrechen können. Weihnachtsgrüße. Gottverdammte frohe Weihnachten. War es, weil ich im Hinterkopf immer noch die Angst hatte, sie könnte etwas ahnen? Doch wie sollte sie?

    »Ihr Sohn ist tot«, sage ich laut ins Leere. In Gedanken füge ich hinzu: Sie haben wenigstens ein Grab, an dem Sie trauern können. Im Gegensatz zu Trudies Eltern. Trudie, die alles miterlebt hat. Trudie, über deren gleichzeitiges Verschwinden Sie sich kaum geäußert haben. War sie so leicht zu vergessen? Oder wartet noch immer irgendeine achtzigjährige Witwe vergeblich auf ihre Rückkehr? Eine weitere trauernde Mutter, die keine Adresse hat, an die sie schreiben kann: jemand ohne die Mittel, in die Vergangenheit einzudringen, Antworten zu
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