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Was am Ende bleibt

Was am Ende bleibt

Titel: Was am Ende bleibt
Autoren: Paula Fox
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«substantiellen Werken der Literatur» die
Unvorhersehbarkeit
. Zu dieser Definition gelangte sie, nachdem sie herausgefunden hatte, dass die meisten der anspruchsvollen Leser, die sie interviewte, es waren Hunderte, auf die eine oder andere Weise in ihrem Leben mit Unvorhergesehenem zurechtkommen mussten. Therapeuten und Geistliche, die sich Menschen mit Problemen annehmen, neigen zur Lektüre schwerer Kost. Ebenso diejenigen, deren Leben nicht den Weg genommen hat, der ihnen zugedacht war: Koreaner aus der Händlerkaste, die keine Händler geworden sind, Ghetto-Jugendliche,die aufs College gehen, sich offen zu ihrem Schwulsein bekennende Männer aus konservativen Familien, Frauen, deren Leben vollkommen anders verläuft als das ihrer Mütter. Diese letzte Gruppe ist besonders groß. Heute gibt es Millionen von Amerikanerinnen, deren Leben dem, das sie sich nach dem Vorbild ihrer Mütter vermutlich für sich ausgemalt haben, in keiner Weise ähnelt, und alle sind sie nach Heaths Theorie potenziell empfänglich für substantielle Literatur.
    Bei ihren Interviews stellte Heath die «weitgehende Übereinstimmung» unter anspruchsvollen Lesern fest, dass Literatur «‹einen besseren Menschen aus mir macht›». Sie beeilte sich, mir zu versichern, dass anspruchsvolle Literatur die Menschen keineswegs nach Art von Lebenshilfe geradebiegt, sondern vielmehr «so auf ihre jeweiligen Lebensumstände einwirkt, dass sich die Leser mit ihnen auseinandersetzen müssen. Und indem sie sich mit ihnen auseinandersetzen, erleben sie sich als immer komplexer und besser in der Lage, mit ihrer Unfähigkeit, ein völlig vorhersehbares Leben zu führen, klarzukommen.» Wieder und wieder sagten ihr Leser das Gleiche: «Durch Lesen bewahre ich mir einen Sinn für etwas
Substantielles
– meine ethische Ganzheit, meine intellektuelle Ganzheit. ‹Substanz› ist mehr als ‹dieses gewichtige Buch›. Das Buch da zu lesen gibt
mir
Substanz.» Diese Substanz, fügte Heath hinzu, werde am häufigsten durch Sprache übermittelt und als etwas Bleibendes aufgefasst. «Und deshalb», sagte sie, «bieten Computer das einem Leser nicht.»
    Nahezu übereinstimmend beschrieben Heaths Gesprächspartner substantielle Werke der Literatur als, wie sie sagte, «einzigen Raum, in dem für den gemeinen Bürger Hoffnung besteht, die ethischen, philosophischen und soziopolitischen Dimensionen des Lebens, die überall sonst so vereinfachend dargestellt werden, in den Griff zu kriegen. Beispielsweise müssen wir uns seit Agamemnon mit einemLoyalitätskonflikt zwischen Familie und Staat auseinandersetzen. Und gute literarische Werke sind solche, die sich weigern, einfache Antworten auf diesen Konflikt zu geben, Dinge schwarz-weiß zu malen, die Guten gegen die Bösen zu stellen. Sie sind all das, was die Pop-Psychologie nicht ist.»
    «Auch Religionen sind gewissermaßen substantielle Werke der Literatur», sagte ich.
    Sie nickte. «Genau das sagen die Leser: Gute Literatur zu lesen sei, als lese man einen besonders dichten Abschnitt eines religiösen Texts. Religion und guter Literatur ist gemein, dass sie keine Antworten geben, dass in ihnen nichts abgeschlossen ist. Die Sprache literarischer Werke offenbart bei jedem neuen Lesen etwas anderes. Aber Unvorhersehbarkeit heißt keineswegs, dass alles relativ sei. Vielmehr ist sie Folge der Beharrlichkeit, mit der Schriftsteller immer wieder auf fundamentale Probleme zurückkommen. Familie versus Staat, Ehefrau versus Geliebte.»
    «Leben versus Sterbenmüssen», sagte ich.
    «Richtig», sagte Heath. «Natürlich hat die Unvorhersehbarkeit der Literatur auch etwas Vorhersehbares. Es ist das, was alle substantiellen Werke gemein haben. Und an
diese
Vorhersehbarkeit klammern sich, wie sie mir sagen, die Leser – an das Gefühl, in diesem großen menschlichen Unternehmen in Gesellschaft zu sein.»
    «Ein Freund von mir sagt unablässig, Lesen und Schreiben drehten sich letztlich um Alleinsein. Allmählich glaube ich das auch.»
    «Ums Nichtalleinsein, ja», sagte Heath, «aber auch darum, gar nicht erst an sich heranzulassen, dass es keinen Ausweg gibt – keinen Sinn des Daseins. Der Sinn liegt in der Kontinuität, im Fortbestehen der großen Konflikte.»
    Auf dem Rückflug von Palo Alto in einer erzwungenen Übergangszone, begleitet von Angehörigen der TWA-Belegschaft, die im Besitz des Unternehmens war, lehnte ichden Kopfhörer für den Film
Die Brady Family
und einen einstündigen Spezialausschnitt von
E!
ab,
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