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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles
Autoren: Reinhard Brandt
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Nichtsingen läßt sich nicht hören und nicht sehen oder riechen, und trotzdem findet es statt und gehörtzur Schule, der Nichtgesang. Wenn ein Knopf an der Jacke fehlt, ein Zahn im Mund, ein Auge im Gesicht, bemerken wir das Fehlende automatisch und zwanghaft; aber wenn in der Stadt keine schwarzen Leichenwagen mehr am Tage fahren, wenn es keinem Bürger mehr möglich ist, Trauerkleider zu tragen, wenn auf dem Friedhof zunehmend die Familiengräber fehlen, dann setzt das Bemerken dieser Nichtigkeiten mehr voraus. Zu dem, was da ist, gehört der Gegenpart des Fehlenden, aber nur für den, der sein Nichtsein bemerkt; wahrnehmen, sehen, hören, schmecken, riechen und anfühlen kann man es nicht. So leid es einem tut und so pathetisch es klingt: Das Nichtsein gehört nicht zum Sein, aber zu unserem Dasein.
    Der gebildete Blick ist immer komparatistisch und bezieht das, was nicht da ist, durch Erinnern und Nachdenken mit ein. Zur Bildung gehört der wache Verdacht – Kuckucksnest? Wie das? Der Verdacht ist nur sinnvoll, wenn er begründet ist, und dann flächendeckend. Viele sprechen Prosa und wissen es nicht; »Prosa« – und nicht?
    Vielleicht können Tiere lachen, vielleicht ist deswegen die Definition des Menschen als eines animal risibile zu weit, weil auch die Wale und die Lieblingskatzen lachen oder wenigstens in Andeutung lächeln können, aber sie können nicht negieren, sie können klagen, aber nicht Kritik üben wie Sokrates, Kant und Karl Marx. A propos Marx; die »nagende Kritik der Mäuse« ist bloße Metapher.
Das »Nicht« im Netz
der symbolischen Formen
    Ãœber fünf oder sechs Milliarden Menschen senden dem Kanzler zu seiner Wiederwahl keinen Glückwunsch; unter ihnen ist einer, bei dem dies eine gezielte Handlung der Unterlassung ist, obwohl er nichts tut, was die fünf oder sechs Milliarden nicht auch nicht täten: Nichts. Unser erster Fall für eine erweiterte »Tafel der Nichtse«. Auf dem Titelemblemvon Hobbes’ Leviathan konvergieren Bischofsstab und Schwert des monumentalen Herrschers außerhalb des Bildes: Die letzte Einheit staatlicher und geistlicher Herrschaft, Gott, läßt sich nicht mehr bildlich darstellen; so gibt das Bild zu erkennen, was es nicht mehr zeigen kann. Die Summe gezogen: Es ist auf das zu achten, was unterlassen und in signifikanter Weise nicht da ist, auch gegen alle Widerstände mit ihrem betonierten Positivismus.
Urteilskraft
    Die Urteilskraft ist der Mensch selbst, »est l’homme même«, und ohne sie wird er zum unmündigen Nachtreter, kurz: Wer nicht selbst zu urteilen vermag, fällt aus, in den Bereichen der Sittlichkeit, der Erkenntnis und der Kunst. In der Urteilskraft bündeln sich die Fähigkeiten der Menschen, und für alle Erziehung und Bildung gilt: Wenn die Urteilskraft die intellektuellen und emotionalen Leistungen nicht begleitet, sind sie wertlos. Deshalb sollte die Stärkung der Urteilskraft in allen Bildungsbereichen das ausgesprochene Ziel sein. Sie ist zu ihren Unterscheidungsleistungen nur in der Lage, wenn sie Zugang zu den nötigen Inhalten hat. Wer keine Grammatik gelernt hat, kann einen Indikativ nicht vom Konjunktiv unterscheiden und steht kopflos vor der Alternative von »sei« und »wäre«, »gebe« und »gäbe«; er/sie wird keine Prosa und keine Dichtung beurteilen können und sich in das Bramarbasieren der höheren Theorieebenen flüchten.
    Ist die Urteilskraft eine Sache der Lehre, der Übung oder der Natur? Kant scheint der letzteren Meinung zu sein: »Der Mangel an Urtheilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdann auch an jener (der secunda Petri) zu fehlenpflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.« »Secunda Petri«: Die Lehre von den Urteilen in der Logik des Petrus Ramus. Kant plädiert also dafür, daß die Urteilskraft eine Sache der Natur ist und sich durch keine Belehrung und Übung verbessern läßt. Wir wollen diese Auskunft
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