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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles
Autoren: Reinhard Brandt
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darzustellen, mit PowerPoint und vielen Bildern. Dadurch wird der Inhalt selbst austauschbar, das Was ist gleichgültig, es kommt die Wirkung des Wie an. »Voltaire war kein Sultan im Orient? Nun gut, dann wählen wir ein anderes Beispiel.«
    Die antike Mathematik hatte einen ontologischen Wert; sowohl Pythagoras wie auch Platon sehen in den Zahlen und geometrischen Gegenständen besonders ausgezeichnete Entitäten und Strukturen alles Seienden und des Erkennens. Der heutige Mathematiker sieht in ihnen dagegen nur effiziente Instrumente, die abgetrennt von der Anwendung keinen besonderen Rang innehaben. Zur Mathematik mag manheute eine persönliche Neigung und Begabung haben, man kann die Proportionen in der Architektur des Mittelalters und der Barockbauten bewundern, aber von einer ontologischen und epistemischen Dignität der mathematischen Objekte zu sprechen, wäre abwegig und nur Ausdruck einer Nostalgie, wir beugen das Knie doch nicht mehr. Bei Platon dagegen war das Quadrivium des siebenteiligen Bildungsganges mathematisch konzipiert, es umfaßte Zahlenlehren, Geometrie, theoretische Musik und theoretische Astronomie. »Niemand möge hier ohne Geometrie eintreten« soll über dem Tor der Akademie gestanden haben. Alle Bildung bezog sich auf genau festgelegte Inhalte, die in sich den Bildungswert enthielten – eine von ihnen gelöste Kompetenz-Didaktik und Bild-Pädagogik war nicht möglich, die unveränderlichen Inhalte selbst waren Seelenführer.
Negation
    Man kann zweierlei bemerken: Was da ist, und dann, aufwendiger und seltener, was nicht da ist. Was da ist, winkt uns zu und drängt sich auf; und dennoch: »Hören Sie den Lärm gar nicht?« »Welchen Lärm?« »Den Wasserfall [ersatzweise: den Verkehr, RB], hören Sie doch!« »Ach so, das höre ich nicht mehr, das geht den ganzen Tag so.«
    Was nicht da ist, wird erst durch einen Umweg bemerkt; hören und sehen und fühlen und riechen kann man es nicht. »Der Fischadler ist in diesem Jahr ausgeblieben.« »Ach. Das habe ich nicht gesehen.« »Auch nicht die Pappeln?« »Welche?« »Die hier vor kurzem gefällt wurden.« »Ach.«
    Â»Einer flog über das Kuckucksnest.« »Tatsächlich?«
    Ein Foto: Lenin mit großer Geste auf einer Rednertribüne, das Bild verkündet die nackte, gut dokumentierte Wahrheit. Und doch ist es eine Lüge der Partei, denn neben Lenin stand ursprünglich Trotzki, der später in Ungnade fiel und aus der Geschichte und dem Foto weggeschwärzt wurde. Um das Bild beurteilen zu können, muß man seine ausgelöschte Vergangenheitkennen, das bloße Hinsehen und Lesen genügt nicht, weil das Sehen keinen Zugang zur Negation hat, die nur das Denken und die vom Denken geleitete Erkenntnis entdeckt.
    Â 
    The King: »They are both gone to the town. Just look along the road, and tell me if you can see either of them.«
    Â»I see nobody on the road,« said Alice.
    Â»I wish I had such eyes,« the King remarked in a fretful tone. »To be able to see Nobody! And at that distance too!«
    Â 
    Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren durch die Fähigkeit des Denkens oder Urteilens. Urteilen und Denken ist nur möglich, wenn Bejahung und Verneinung gleichermaßen präsent und möglich sind und die Freiheit der Reflexion genau dort eintritt, wo die Natur aufhört. Denken ist gebunden an das einzelne Subjekt, und dieses kann nur denken, wenn es dasselbe sowohl bejahen wie auch verneinen kann – eine Freiheit, die wir Menschen haben, die wir notwendig und zwanghaft Selbstdenker sind, im Gegensatz zu allen Tieren und zu den Synapsen in unserem Gehirn; wer diese Freiheit leugnet, macht von ihr Gebrauch.
    Der Biologe erkennt, welche Farben von den Bienen wahrgenommen werden und, was nur wir erkennen, welche Farben sie nicht wahrnehmen, denn in alle Ewigkeit wird keine Biene wissen, daß sie das langwellige Rot nicht sehen kann. Der Mensch kann Infrarotstrahlung nicht optisch, sondern nur als Wärme empfinden, und diesen Sachverhalt kann er, im Unterschied zu den Tieren, urteilend erkennen, aber, wie die Tiere, nicht empfinden oder wahrnehmen.
    Zur Bildung gehört die Vergegenwärtigung des Nichtda-Seienden, nicht des Beliebigen, sondern des Wichtigen. Man muß bemerken, daß in den Schulen nicht mehr gemeinsam gesungen wird, und daraus ergibt sich die Nachfrage: Warum? Das
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