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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles
Autoren: Reinhard Brandt
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zählen nur die Gegenwart und die Zukunft, daneben gibt es einige Erinnerungsstätten und Museen für die Freizeit. Auch: »Seit die Dampfmaschine Herrin der Welt ist, ist jeder Titel eine Absurdität« (Stendhal). »I like the dreams of future better than the history of the past« (Thomas Jefferson). »Out with the old, in with the new.«
    Der globale Markt eliminiert aus seinen Angeboten die Erinnerung und setzt auf den unmittelbaren Verzehr. Die Produktionsstätten können weltweit in Billigländer verlagert werden, lokale Traditionen haben allenfalls einen dekorativen Wert. Das Know-how entstammt keiner Handwerkertradition, sondern wird dem letzten Computerprogramm entnommen, das in nichts an seine anonymen Entwickler erinnert.
    Kurz: Das Erinnern, das Aus- und Inwendiglernen, ist aus den Bildungsanstalten radikal eliminiert worden, weil Politik und Ökonomie ohne Erinnerung operieren. Wer für die Aktivierung des Gedächtnisses plädiert, muß sich diese Ausgangsposition vergegenwärtigen. Im Elementarbereichsind die gemeinsam auswendig gelernten Gedichte (gute Gedichte, nicht die Tagesproduktion, die morgen vergessen wird) von größtem Bildungswert für das Individuum und die Lerngruppe; den Schülern wird die Chance gegeben, sich vor der Klasse darzustellen und mimisch und rhetorisch das Gelernte zu präsentieren. In den weiteren Bildungsgängen ist das Auswendigkönnen immer noch ein unentbehrliches Mittel, Kulturtraditionen zu erhalten und neu zu erfinden. Alle Kultur ist imprägniert von ihrer Vergangenheit, die mitgehört, mitgesehen, mitgedacht werden muß, um sie beurteilen zu können.
Inhalt
    Die europäischen Bildungsanstalten waren zwei Komponenten der Kultur verpflichtet und leiteten aus ihnen die verbindlichen Inhalte ab, dem Christentum und der Antike. Die Kenntnis der beiden Ursprünge war obligatorisch für alle, sei sie rudimentär durch den Elementarunterricht oder ausgefeilt und genau. Bis in das 18.Jahrhundert wurden Vorlesungen und Prüfungen und alle akademischen Dissertationen auf lateinisch verfaßt; der christliche Glaube mit seiner Orientierung in den beiden Testamenten war die selbstverständliche Voraussetzung für jede öffentliche Tätigkeit, kein Jude oder gar Heide konnte vor der Mitte des 19. Jahrhunderts Professor an einer Universität oder Minister werden. Aus beidem folgte ein unbezweifelter Kanon von Inhalten, die auswendig gelernt wurden und Faktum und Norm waren, von Sevilla bis Riga und Oslo bis Palermo. Ein Kanon beansprucht, unveränderlich zu gelten, manchmal mit der besonderen Note, im genauen Wortlaut keine Änderung zu dulden. Daher darf der Priester bei der Lesung der Heiligen Schrift nicht seinem liquiden Gedächtnis trauen und den Text auswendig vortragen, sondern das Lesen Wort für Wort ist verbindlich. Das Lateinische und Griechische waren tote Sprachen und teilten so die Unveränderbarkeit der Texte. Woauch immer Cicero gelesen wurde, es war idealiter derselbe stabile Text. Die Neuformationen in Politik und Glauben begriffen sich grundsätzlich als Rückkehr zu den eigentlichen Ursprüngen.
    Mit der Zeitenwende von 1789 sind diese Konsense aufgekündigt, die Vergangenheit ist jetzt tatsächlich vergangen und kann unverbindlich in attraktiven Museen und Ausstellungen konserviert werden. Die Exponate werden nach anderen Gesichtspunkten gewählt als dem ihrer ursprünglichen Mächtigkeit, sie sollen den Betrachter informieren und erfreuen. Der Ort ist beliebig, die Zusammenstellung auf den Besucher bezogen. Die Differenz von unverrückbarer Vergangenheit in einem festen Ritual einerseits und ihrer beliebigen Ausstellung andererseits ähnelt der Differenz von Feiertag und Ferien. Die Feiertage werden durch die allgemeine Kultur verbindlich für alle festgelegt, die Ferien können nach subjektiven Bedürfnissen auf der Zeitschiene so verteilt werden, daß ein sozialverträgliches Gleichgewicht von Arbeit und Nichtarbeit entsteht. Die Feiertage werden zu Ferien gemacht, weil ihre Herkunft vergessen ist und jeder tun und lassen kann, was er will. Im Angebot: Weihnachten in der Karibik oder in Bahrein; Ostern in Island.
    In den Bildungsanstalten schwindet der normative Wert der Inhalte, die entsprechend durch beliebig andere ersetzt werden können; sie sind sowieso nur Anlässe für den Erwerb der Kompetenz, irgend etwas überzeugend
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