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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles
Autoren: Reinhard Brandt
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einem Körper. Das ist schon die Meinung Homers. Die Abfolge: Zuerst erkennt man etwas, das Erkannte erregt zweitens Lust oder Unlust, Attraktion oder Repulsion, und darauf folgt drittens der Wille zur entsprechenden körperlichen Handlung. Der gebildete Mensch, so folgern wir, hat aus diesen natürlichen Teilen etwas Zusammenstimmendes gemacht, wozu es freilich der Glücksumstände bedarf, deswegen die Bitte um die Einhilfe der Götter. Die Natur ist für die Bildung nicht zuständig; schon die Haustiere wie Hunde und Pferde benötigen eine gute Dressur, um mit sich und den Menschen und der Umwelt zurechtzukommen, um so mehr die Menschen selbst: Ein gutes zeitgemäßes Erkenntnistraining, eine musische Formung der Gefühle, die Erziehung zum vernünftigen Umgang mit den eigenen Entschlüssen und für den Körper Handstand und Rolle vorwärts und rückwärts.
Gedächtnis I
    Auch das menschliche Gedächtnis hat seine Geschichte; etwas auswendig zu können bedeutete vor 200 Jahren etwas anderes als heute. Vor 1789 stand neben Lesen und Rechnen das Memorieren im Mittelpunkt der Elementarerziehung,später lernte man Predigten, Vorlesungen und vor allem klassische Texte möglichst im Wortlaut; Dissertationen sollten nichts Neues enthalten. Zu Platons Zeiten konnten gebildete Griechen die Ilias und Odyssee auswendig, und zu öffentlichen Rezitationen kamen Tausende zusammen. Die Formierung des Menschen durch sein Gedächtnis, die Initiation durch die geistige Einverleibung des tradierten Wissens gehört einer Vergangenheit an, auf die wir nur noch museal und historistisch verweisen, für unsere eigene Bildung und ihre Anstalten ist sie ohne Relevanz, es sei denn, man belebt sie in einer aktualisierten Form.
    Â»Arché« heißt Anfang und Herrschaft; Herrschaft datierte sich ursprünglich an den Anfang zurück und legitimierte sich durch die Vorvorväter; die Mythen zeigen, daß jedes erfolgreiche Herrschaftshaus am Anfang göttlichen Ursprungs und deswegen zur Herrschaft berechtigt ist. Auch alles Gute und Wahre geht auf den Anfang zurück, das Böse und die Lüge werden als abtrünnig gebrandmarkt und verfolgt. Die Erinnerung an die vergangenen Taten und Leiden der Geschlechter ist also notwendig, um das Herrscherprivileg der feudalen Häuser zu stützen. Selbst revolutionäre Bewegungen wollen nur restituieren, was am Anfang war. »Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« Luther protestiert gegen die römische Kirche, weil sie von den christlichen Anfängen abgefallen ist. Die Freiheitsbewegungen des 17. und 18.Jahrhunderts sind verbunden mit der Erstürmung der Rathäuser und Stadtarchive, in denen die anfängliche Gesellschaftsform dokumentiert ist, es ist nicht die Freiheit als solche, die gefordert wird, sondern »the old liberties«. Aus der Vergangenheit leiten sich nicht nur Herrschaft und Freiheit ab, sondern die Identität des Gemeinwesens und seiner Bürger. Die pathologischen Deformationen der IRA und der ETA zeigen noch die Macht dieser Identitätsbildungen.
    Es ist günstig, die Zeitenwende von der Vergangenheit fort in die Gegenwart und Zukunft symbolisch in das Jahr 1789 zu legen; in ihm faßt sich die politische und die gedankliche Revolution der europäischen Aufklärung zusammen. WennKant die Kritik der reinen Vernunft von 1781 als einen Gerichtshof darstellt, vor dem sich Thron und Altar zu rechtfertigen haben, dann erklärt er die Berufung auf ererbte Herrschaft der Kirche und des Adels für obsolet; die Rechtsansprüche müssen sich republikanisch legitimieren, oder sie sind verfallen. Das politische Ergebnis dieser Zeitenwende ist die Demokratie, in der die Herrschaft aufgehoben ist in der Selbstherrschaft der Beherrschten und in der die selbst gewählte Regierung sich nicht in der Vergangenheit bewährt, sondern in der Problemlösung der Gegenwart. Wer die Probleme nicht lösen kann, wird abgewählt und ersetzt. Was zählt, ist die Fähigkeit für die Zukunft, nicht das Andenken an den Anfang. Die Einwanderungsbehörden der USA tilgten das bürgerliche Gedächtnis der Ankömmlinge: Jeder Adelstitel wurde ausgeschwärzt; der Bürger betrat die Neue Welt ohne den Ballast ungleicher Erinnerungen. Seit 1789 ist die Weltauffassung präsentistisch; was eine Person nicht im Moment zu leisten fähig ist, kann vergessen werden, es
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