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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles
Autoren: Reinhard Brandt
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negieren und die Verbesserung der Urteilskraft durch Kritik und Negation vorschlagen.
    Nochmals die Negation. Die Urteilskraft betätigt sich situativ, sie ist nicht auf allgemeine Erkenntnis gerichtet wie der Verstand, das zentrale Organ wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Urteilskraft bezieht die Verstandeserkenntnis auf eine bestimmte Situation, sei es der sonstigen Erkenntnis, sei es anderer Umstände, und sie stiftet dadurch erst den Wert des Beurteilten. Um hierbei zu einer haltbaren Festlegung zu kommen, ist die Urteilskraft darauf angewiesen, anderes auszusortieren, es bewußt abzuweisen, sich auf die Schwierigkeit einzulassen, Nein zu sagen. Nichts läßt sich beurteilen, ohne daß Alternativen präsentiert und abgewiesen werden.
    Die Urteilskraft ist unausweichlich persönlich, sie kann an keinen Computer und an kein Kollektiv delegiert werden; deswegen ist die letzte, unhinterschreitbare Schranke der menschlichen geistigen Existenz nicht das »ego cogito« (das sagt auch mein Taschenrechner), sondern »ich urteile selbst«.
    Für die Konzeption einer Zivilgesellschaft ist es unerläßlich, auf dieses letzte Residuum zu setzen und das begründete eigene Meinen zu kultivieren, von der Krippe bis zum Testament.
    Ohne geschulte Urteilskraft versinkt die Wirklichkeit in das rundum Gleichgültige, oder sie wird zum Witz, denn der Witz urteilt und unterscheidet nicht, sondern bringt das Ungleiche zusammen und führt bei der Paarung zum Gejohl der Hörer und zur Verbesserung der Einschaltquoten.
Verstehen
    Versteht denn jemand, was es heißt, etwas oder jemanden zu verstehen? Verständlicher ist die Redeweise, sich auf etwas zu verstehen oder zu laufen, springen etc. verstehen; wir haben die Probe in der Praxis; jemand versteht sich auf das Kochen, wenn es hinterher gut schmeckt und niemand vergiftet wird; jemand versteht sich auf die Dressur des Hundes, wenn dieser nach einiger Zeit so tun kann, als könne er zählen; jemand versteht sich auf die Reklame, wenn der Umsatz steigt; sie versteht zu singen, wenn alle im Saal bleiben. – Wir können auch sagen, was Erkenntnis ist; ein Gegenstand der Erkenntnisse der Astronomie ist z. B. die elliptische Bewegung der Planeten um die Sonne. In der Naturwissenschaft wird erkannt, was beliebige Menschen mathematisch beschreiben und experimentell nachvollziehen oder simulieren können. Es läuft immer auf ein überprüfbares Können hinaus, wenn man sich auf etwas versteht oder etwas erkennt. Jemand versteht nicht das Spanische, sondern versteht, spanisch zu lesen und zu sprechen, kann Spanisch.
    Â»Meine Katze versteht mich genau!« »Ich bin Baske! Aber Sie verstehen mich nicht und können auch nie die ETA verstehen!« »Nur Schwarze verstehen die amerikanische Geschichte!« »Schiller war der einzige, der Goethe verstanden hat.« »Wir haben Hölderlin noch nicht verstanden.«
    Vielleicht sind die ursprünglichen Mythen Versuche, die Welt, die Götter und sich selbst zu verstehen; als man sah, daß dies nicht gelingen kann, verfiel man auf die Erkenntnis als den leichteren Ausweg.
    Â 
    Â»Wir verstehen die früheren Autoren immer nur aus unserer eigenen geschichtlichen Perspektive, häufig besser als sie sich selbst.«
    Â»Frühere Autoren? Bis wann früher? 1968? Bis heute morgen? Gehöre ich mit meinen Sätzen von zehn Uhr auch dazu? Vielleicht sogar dieser eben zu Ende gebrachte Satz, der schon im Schlund der Geschichte steckt?«
    Â»So war das nicht gemeint. Ich denke: Ganz früher.«
    Â»Ganz früher, sei’s drum. Aber wenn man erkennen kann, daß man einen Autor besser versteht als er sich selbst, so muß man doch ebenfalls erkennen, wie er sich versteht, sonst fehlt der Vergleichspunkt für das ›besser‹.«
    Â»Ach so.«
    Â»â€ºUnsere eigene geschichtliche Perspektive‹ – verstehen Sie, was das ist?«
    Â»Natürlich, das versteht jeder, eben unser Verstehenshorizont.«
    Â»Er ist sicher anders als der Ihres Nachbarn, der an der Börse tätig ist.«
    Â»Ein wenig schon. Aber wir verstehen uns gut.«
    Â»Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!«
Konstellationen
    Die komplexe Wirklichkeit ist geordnet oder wird von uns geordnet nach bestimmten begrifflichen Konstellationen. Ein gutes Beispiel sind die vier Jahreszeiten; bei Homer waren es noch drei, wer weiß, welcher Dauersommer uns noch
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