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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles
Autoren: Reinhard Brandt
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erregendsten Bilder zeigt, hat die Stelle gewonnen. Es ist jedoch so: Das optisch Wahrnehmbare sagt für sich gar nichts, wenn es nicht mithilfe vorhergehender Gedanken und Erkenntnisse erkannt wird. Wer das Röntgenbild auch noch so genau und vergrößert sieht,erkennt nichts, wenn er nicht zuvor Medizin studiert hat; erst nach zehn Semestern kann er dem Patienten sagen: »Hier sehen Sie den Zwischenkieferknochen, der nun bei Ihnen leider [...].« Oder: »Hier ist die Lunge, und dieser Schatten ist leider eindeutig [...].«
    Â»Ein Bild sagt mehr als tausend Worte« – ein Bild sagt gar nichts ohne eine begrifflich-sprachliche Erkenntnis, die es zum Sprechen bringt.
    Nietzsche schreibt: »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff ›Blatt‹ durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet.« Suchen wir gleich nach dem Fehler. Man zeige, wie die hier benutzten drei Begriffe erstens des Begriffs, zweitens des Gleichen und drittens des Nichtgleichen durch das Vergessen des Unterscheidenden gebildet werden; es gelingt nicht. Welches Gleiche und Nichtgleiche diente dazu, den Begriff des Begriffs zu bilden oder auch den des Gleichen und des Nichtgleichen? Die These von Nietzsche läßt sich also nicht begründen, sondern nur aus seinen zeitgemäßen Vorurteilen erklären. Nietzsches Weltanschauung ist wie die seiner meisten kaiserlichen Zeitgenossen materialistisch und biologistisch, alles Obere leitet sich von unten her, verkündet Nietzsche gegen den Platonismus und das Christentum, und ist sich des Beifalls bis zum Jahr 2008 gewiß. Das »beliebige Fallenlassen der individuellen Verschiedenheiten« führt schnurstracks ins Irrenhaus.
    Die Summe gezogen: Die Kompetenz der Bilder wird zu Lasten der Begriffe und der sprachlichen Erkenntnis überschätzt. In den Schulen führen sie, wenn die begriffliche Arbeit nicht auf das Bilderbegucken folgt, zur Infantilisierung, wie der Markt es sich wünscht. Bilder haben rhetorische Funktionen, sie sollen den Käufer hin zum Kauf der Ware führen, Bilder sind suggestiv, sie machen uns glauben, wir hätten irgend etwas erkannt.
Abraham
    1. Mose 22: »Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. Und er sprach zu ihm: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. Da stand Abraham auf und gürtete seinen Esel. Seine Frau Sara aber fragte ihn, ob er nicht eine Stimme am Morgen gehört habe: Ja, antwortete Abraham, eine Stimme wie in einem bösen Traum, in dem der Versucher erschien. Wer bin ich, daß ich ihm folgen soll? Und Sara sprach: Tu dein Tagewerk, gehe hin mit den Knechten auf den Acker und bestelle das Feld, Isaak aber bleibt im Haus.«
Theorie der Unbildung
    lautet der Titel eines lesenswerten Buches von Konrad Paul Liessmann, »Theorie« natürlich im überweiten Sinn des Wortes, denn eine Theorie der Unbildung kann es nur als Negativreflex der Theorie der Bildung geben, und die ist im strikten Sinn des Begriffs der Theorie ebenso unmöglich, pace Humboldt.
    Aber Vorsicht: Die Theorie der Unbildung, wenn dies nicht ein hölzernes Eisen ist, leitet sich aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert her und wird kontinuierlich bis in die Gegenwart vererbt. Der erste Lobbyist der Unbildung war der Kyniker Diogenes mit seinem anti-platonischen Zurück-zur-Natur; Raffael zeigt ihn in der sog. Schule von Athen , wie er den gelehrten Unterredungen fernbleibt, auf der Treppe liegt und einen Eßnapf bei sich hat. Zum wahren Menschsein bedarf es, so der Kyniker, keiner Bildung und keiner Ideenlehre, sondern des Lebens gemäß der Natur, wie es uns die Hunde zeigen. Sublimierungen und andere Kulturverkrampfungen sind unnötig, weil sich alle Bedürfnisse aufdem Markplatz erledigen lassen. Die Stoiker ließen die Sache mit dem Markplatz, aber daß der Mensch zur Selbstverwirklichung keiner künstlichen, gar akademischen Bildung bedarf, war für sie ausgemacht. Die Tradition wird von den Franziskanern aufgenommen, die das einfache Leben suchten und barfuß liefen. Im neostoischen Rousseauismus wird das Thema variiert und nistet jetzt
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