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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun
Autoren: Threes Anna
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Tennis spielte, den Ball durch die Fensterscheibe des Damenzimmers geschlagen hatte. Nun stand der Sekretär wieder dort, er wischte sich den Schweiß von der Stirn, und die Damen starrten ihn an. Die Ventilatoren an der Decke drehten sich auf Hochtouren.
    »Sind Sie sich wirklich sicher?« tönte es auf einmal laut aus einer Ecke.
    Der Sekretär nickte, er wunderte sich über die Sprecherin, denn die Frau von Alok Nath, dem Goldschmied, sprach sonst immer unverständlich leise, weil sie das vornehm fand.
    »Wie bitte?« fragte Witwe Singh, die neben der Frau von Alok Nath saß und von dem unerwarteten Klang der Stimme neben ihr aufgewacht war.
    »Das ist nicht möglich! Das kann einfach nicht sein! Ich hab doch noch heute, bevor ich in den Club gekommen bin, ein Stück sehr wertvolle rosa Chinaseide zu ihm gebracht.« Die korpulente Frau von Nikhil Nair, dem Distriktsdirektor der Eastern Indian Mining Company, war aufgestanden und funkelte den Sekretär wütend an. »Er ist persönlich zu meinem Auto gekommen und hat mir den Stoff abgenommen, der Mann sah kerngesund aus.«
    Der Sekretär wandte sich an die Frau von Ajay Karapiet, der das größte Hotel der Stadt und zwei Kinos besaß. »Ihr Mann hat mich gerade angerufen. Er hat mir erzählt, daß Ihre Tochter mit einem Brokatstoff in die Werkstatt gegangen ist und daß er in dem Moment, als Ihre Tochter ihm den Stoff geben wollte, die Augen verdreht hat und ohne einen Mucks langsam in sich zusammengesackt ist.«
    »Mit dem Brokat in der Hand?« fragte die Frau von Ajay Karapiet fassungslos.
    »Das weiß ich nicht«, meinte der Sekretär, »davon hat Ihr Mann nichts gesagt.«
    »Ich hab gestern auch Stoff hingebracht«, sagte die Frau, die mit einem Kokosölfabrikanten verheiratet war.
    Alle Damen redeten durcheinander. Jede von ihnen hatte in den vergangenen Wochen ein Stück Stoff zu Sanat, dem Darsi, gebracht. Der eine Stoff war noch wertvoller als der andere. Nur Charlotte und die Frau von Adeeb Tata, dem örtlichen Großgrundbesitzer und entfernten Verwandten des steinreichen Ratan Tata, hatten dem Schneider keinen Stoff gebracht – die Frau von Adeeb Tata, weil sie sich schon ein Kleid in Paris gekauft hatte, und Charlotte, weil sie noch Stoff besorgen mußte.
    »Ich hätte mein Kleid übermorgen abholen können. Ich muß es noch besticken lassen.«
    »Hat er eigentlich einen Nachfolger?«
    »Was soll ich jetzt anziehen?«
    Viele der Damen trugen ein Kleid oder ein Salwar Kameez , anders als die Damen des Mittwochmorgenclubs, die ausschließlich im Sari erschienen. Die Sachen, alle von Sanat genäht, sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Er benutzte für alle Kleider dasselbe Schnittmuster. Manche hatten lange Ärmel, andere kurze, der Halsausschnitt war bei dem einen eckig und bei dem anderen rund. Darum waren Stickereien, Knöpfe und Spitzen so beliebt, denn es war die Verzierung, die neben dem Stoff selbst für Abwechslung sorgte. In Kürze bestand der Club zweihundert Jahre, und dieses Jubiläum sollte groß gefeiert werden. Deshalb hatten die Damen alles darangesetzt, einen besonderen Stoff zu finden. Charlotte hatte gehört, daß manche sogar nach Neu-Delhi oder Bombay gefahren waren, um die Exklusivität sicherzustellen. Es war unübersehbar, daß sich die Frauen mittleren Alters am liebsten sofort zur Werkstatt des soeben verstorbenen Schneiders aufgemacht hätten, um ihre Stoffe zurückzuholen, doch das schickte sich nicht. Sie würden bis nach der Verbrennung und den darauf folgenden Abschiedszeremonien warten müssen. Die Angst, daß die kostbaren Stoffe bis dahin auf mysteriöse Weise verschwinden oder kleiner werden würden, war nicht ganz unbegründet. Die Frau von Nikhil Nair schlug vor, einen Wachtposten vor die Tür zu stellen, aber die anderen Frauen befürchteten, die Familie des Schneiders könnte das als Mißtrauensvotum sehen. Die Frau des Goldschmieds kannte die Frau eines Neffen des Schneiders und schlug vor, ihn zu bitten, die Sache im Auge zu behalten, aber die Frau des Bauunternehmers, der den Plan zur Sanierung des Clubhauses vorgelegt hatte, erzählte, daß der Hausdiener des Schneiders in seiner Jugend mit der Polizei zu tun gehabt hätte; davon wußte die Frau des Polizeikommandanten nichts, versprach aber, sich bei ihrem Mann danach zu erkundigen. Die Witwe Singh war wieder entschlummert und schnarchte leise.
    Der Nagelspezialist, der mit einer Kunststoffhand, an der jeder Finger ein anderes Nagelproblem aufwies, vor der Gruppe
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