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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag
Autoren: Annett Groeschner
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schicker wird und das ganze Kroppzeug verschwindet. So wie auf dem Potsdamer Platz.«
    Ich hole meine arg zerknautschte Flüstertüte hervor und rufe den beiden, mir durch Rückwärtslaufen nach Phnom Penh Abstand verschaffend, zu: »Lassen Sie mich zum Abschluss unseres überaus produktiven trilateralen Treffens ein kleines Gedicht rezitieren, das ich mir selbst ausgedacht habe. Es heißt >Der Kältestrom auf den Nachtkorridoren<.
    Hörst du, wie sacht das Meer einströmt
    Unter dem Alexanderplatz, die Zikaden
    Hörst du die Erde die fette mit ihren Würmern
    Schmatzen und schmatzen?
    Ist das der Tod? Hat er nicht Urlaub, hier,
    Weil Beton ist, etagentief
    Gemacht von Menschen einer Epoche, die ausgelöscht ist
    Gründlich gewechselt wie die Uniform
    Des Genossen Gottfried
    Und der Alex seine Höhenflüge durch die Welt antritt
    Frei von Grunewald
    Schuld und Sühne
    Der Mitte von Nichts
    Nächtens am Strand von Berlin
    Sandlos
    Die Sterne bilden einen Wagen
    In den steigen wir ein. «

    »Das reicht, ich vollziehe hiermit den schon gestern angedrohten Platzverweis nach ASOG § 301 1 Strich 2.« Gottfried packt mich am Arm und zieht mich aus Südostasien fort unter den Sternenhimmel von Berlin. »Keine Diskussionen! « – » O. k. Die Zeile >Der Mitte von Nichts< könnte man streichen, aber so schlecht war’s ja nun auch nicht.« – ? »Klappe«, sagt Gottfried, »sonst erfinden wir noch eine schlimmere Straftat für dich.« – »Oh, das gibt wieder Arbeit für meine Anwälte.« – »Er kann es nicht lassen. Bastard!«
    Ich starre in den klaren Himmel und halte meine Worte im Mund fest. Vielleicht hat sich der Wetterbericht geirrt, und es regnet diese Nacht doch nicht. Der Große Wagen sieht aus, als wolle er sich, bis oben hin mit Sprengladungen gefüllt, kopfüber in das Kaufhaus stürzen. An der Tür des Streifenwagens übernimmt Bartuschewski, drückt meinen Kopf nach unten und schiebt mich in den Fond des Wagens. Das Ritual ist uns allen vertraut, Bartuschewski ist fast ein bisschen nachlässig dabei, weil er weiß, dass ich mich nicht wehren werde.
    »Hey, hey, hey, mein Rucksack muss aber mit«, schreie ich, und Bartuschewski wirft ihn mir hinterher. »Mann, is der schwer, was haste ’n da drin?« Solche wie dich, will ich sagen, verkneife es mir aber. »Privatsache«, sage ich. »Privatsachen gibt’s nicht, wenn man verhaftet ist. Aber ehrlich gesagt, ich will’s gar nicht wissen.« Das beruhigt mich. Er schiebt die Tür zu und steigt auf den Beifahrersitz. Besser gesagt, er quält sich drauf.
    Neben mir sehe ich die Rücklichter der letzten 4, die in Richtung Stadtrand fährt. »In welche landschaftlich schöne Gegend geht es?« – » Wie in Ihrem Gedicht angedeutet, selbstverständlich Grunewald, der Herr. Dürfen wir Sie auf Ihrer Reise begleiten? Zurück dürfen Sie zu Fuße gehen. Dürfte so vier Stündchen dauern.«
    Die Ironie steht Bartuschewski überhaupt nicht, aber ich werde es ihm nicht sagen, ich möchte heute Nacht gerne möglichst unversehrt den Rückweg in die Stadt antreten. Um vier ist Annjas Umzug, ich habe versprochen, ihr zu helfen, nicht dass die Ärmste alleine mit einer Kühltruhe auf der Prenzlauer Allee
herumsteht. »Ja, danke, ich fürchte mich im dunklen Wald. Angst ist größer als Heimweh.«
    Die Turmuhr des Roten Rathauses schlägt zwölf Mal, als Gottfried das Auto ganz langsam unter der Eisenbahnbrücke hindurch in Richtung Spandauer Straße bewegt, wo wir nach rechts abbiegen. Durch das Heckfenster sehe ich, dass die Berliner Fahne auf der Spitze des Rathausturmes auf halbmast gesetzt ist, warum eigentlich, denke ich, dann macht die Wärme mich schläfrig.
    »Wehe, du ziehst die Schuhe aus«, höre ich Gottfried noch rufen, dann nicke ich mit dem Kopf auf dem Rucksack ein.

o.oo Uhr
Gerda Schweickert schmeißt eine Sternkarte weg und nimmt von einem Leben in der Danziger Straße Abschied
    Zehn. Elf. Zwölf, aus. Gerda Schweickert liegt in ihrem Bett und lauscht dem Ausschwingen des letzten Gongschlags. Eine Nachahmung der Schöneberger Freiheitsglocke. Jetzt, da das Wohnzimmer fast leer ist, bekommt dieser Ton eine gewaltige Resonanz. Das hat etwas Bedrohliches, als läute gleich jemand an der Tür, um die allgemeine Mobilmachung zu verkünden. Wenn Gerda Schweickert die Glocke früher im RIAS hörte, stellten sich ihre Nackenhaare auf, und ein angenehmer Grusel kroch über die Wirbelsäule in die Gedärme, gleichzeitig breitete sich in der Brust ein Hochgefühl
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