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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag
Autoren: Annett Groeschner
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achtzehn Minuten von der Danziger hier unten am Arnswalder Platz bis zum Kollwitzplatz, und sie ist noch gut zu Fuß. In der Armengegend da oben auf dem Berg haben, als sie Kind war, nur Proletarier gewohnt, während man in ihrem Viertel wusste, wie man sich benimmt.
    Es hat dann aber keiner das Haus ersteigern wollen. Und nun wird es nicht renoviert, sondern nur leer geräumt, um es in einem halben Jahr mit höherem Erlös verkaufen zu können.

    Gerda Schweickert zieht in ein Seniorenwohnhaus: Betreutes Wohnen am Kollwitzplatz. In die Armengegend. Sie wusste gleich, dass das nicht gut gehen konnte mit der Wende. Aber sie hat das damals nicht laut gesagt, weil die anderen sich so über das Westgeld freuten.
    Sie legt die Sternkarte wieder aufs Fensterbrett zurück. Das Jahr über hat sie die Sterne wandern sehen, und immer wieder hat sie das beruhigt. Die Konstante ist beweglich. Aber das ist jetzt vorbei. Oder wie der Möbelpacker, der am Morgen zur Besichtigung kam, gesagt hat: »It’s over, Muttchen.« Da hätte sie ihm fast eine geklebt. Aber er hat es ja nur gut gemeint, er wollte wahrscheinlich nur sagen, dass sie nun nicht mehr die vier Treppen hoch muss, weil die Altenburg, wie Gerda ihr neues Haus nennt, einen Fahrstuhl hat. Aber um die Sterne zu sehen, muss sie ab morgen auf den Kollwitzplatz. Denn wenn sie aus dem Fenster ihrer Seniorenwohnung schaut, sieht sie nur Mauern und Platanenäste.
    Gerda Schweickert starrt auf die Stelle an der Wand, an der vor ein paar Stunden noch ihr Hochzeitsbild gehangen hat. Ein helles Viereck mit unregelmäßigen Rändern, die von dem breiten ziselierten Goldrahmen herrühren. Naja, Goldrahmen. Nichts als Gips ist da unter der glänzenden Farbe, sie hätte ihn in den Müll werfen sollen, anstatt ihn, in drei Lagen Zeitungspapier gewickelt, in einer Umzugskiste zu verstauen. Den Rahmen hat ein Kollege von Rudolf in den siebziger Jahren aus Gips hergestellt und mit Goldlack angepinselt. Gerda erinnert sich genau an die Lackflaschen, die schwer zu bekommen waren. Sie maßen kaum zehn Zentimeter und verjüngten sich erst kurz vor dem schwarzen Schraubverschluss. Das Etikett war beige, mit schwarzer Schrift, die nicht ausreichend fixiert war, sodass sich die Buchstaben beim Berühren spiegelverkehrt auf die Hand drückten. Rudolfs Kollege, wie hieß der doch gleich, hat ein Vermögen mit diesen Goldrahmen gemacht. Er ist noch vor der Rente an Leberzirrhose gestorben. Jeden Abend hat er nach seiner zweiten Schicht als Rahmenhersteller bei Brechts an der Greifswalder Ecke Dimitroffstraße
gesessen. Das war auch Rudolfs Stammkneipe, und es ist ein Wunder, dass es sie noch gibt, wo doch die Stammgäste nach und nach alle weggestorben sind. Zwei sogar auf dem Kneipenstuhl.
    In seiner übertriebenen Üppigkeit passt der Goldrahmen so gar nicht zu den beiden ausgemergelten Gestalten da auf dem Foto. Sie in einem rosa Kleid aus eingefärbter Fallschirmseide und Rudolf in dem viel zu großen Anzug ihres Vaters. Der war aus dem Krieg nicht wiedergekommen, obwohl er erst 1944 eingezogen worden war und nur in einer Schreibstube in Goldap gesessen hatte. Ihr Vater war damals fünfundfünfzig, ein stattlicher, wenn nicht gar dicker Mann, der ganz akkurate Buchstaben und Zahlen schrieb. Sie hat noch ein Kassenbuch des Seifengeschäfts, Geschäftsjahr 1938, die guten Zeiten. Vorn auf dem Umschlag klebt ein Foto der Mutter in gestärkter Schürze vor dem hohen Regal, in dem die Waren immer ordentlich gestapelt waren, darauf hat der Vater großen Wert gelegt.
    Wie hieß die Wäschestärke noch mal?
    Ach, Gerda, das weißt du doch. Sie stand immer rechts von der Kasse im untersten Regal, gleich neben der Lanolinseife. Irgendwas mit H.
    Mensch, das kann doch nicht so schwer sein.
    »Einmal«, sagten die Frauen immer, wenn sie in den Laden kamen, um Kondome zu kaufen. »Einmal Lanolinseife, und dann noch einmal Einmal.« Und immer kamen die Frauen, nie die Männer. Die Kondome waren in kleinen runden Aluminiumdöschen. »Hygienischer Gummischutz Deutsche Dublosan Gesellschaft Berlin-Neukölln.« Daran erinnert sich Gerda Schweickert noch. So schön verpackt gibt es die heute nicht mehr. Die Mutter hat Gerdas Milchzähne in so einem Döschen aufgehoben.
    Ist alles verbrannt damals, als die Bombe schräg ins Haus fiel und vor dem Schaufenster explodierte. Nachdem das Geschäft hin war, ging die Mutter zum Vater nach Ostpreußen. Sie war sich sicher, dass die Bomber dort nicht hinkämen. Dann aber
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