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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag
Autoren: Annett Groeschner
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aus, das sie die Schultern leicht heben, den Rücken straffen und sie im selben Moment peinlich berührt sein ließ. Bei der Standuhr ist es ihr nie so ergangen, vielleicht weil der Satz »Eine freie Stimme der freien Welt« nicht folgt. Die Schwägerin, die in Westberlin lebte, lud das Ungetüm noch vor dem Mauerbau in der Wohnung ab. Gerda Schweickert hat vergessen, aus welchem Anlass. Vielleicht wollte sie ihnen zeigen, dass es der Schweickert’schen Linie in Westberlin an Geld nicht fehlte. Zweimal im Jahr, zu Rudolfs Geburtstag und zum vierten Advent, kam seine Schwester über die Grenze. Der Geruch ihres Parfüms hing noch in der Wohnung, wenn Rudolf den Ausziehtisch wieder für das nächste halbe Jahr zusammenschob.
    Gerda Schweickert mag die Standuhr nicht. Sie ist viel zu groß für das Wohnzimmer der Hinterhauswohnung. »Aber sie ist von meiner Schwester«, sagte Rudolf immer, wenn Gerda mal wieder drauf und dran war, eine Annonce mit dem Satz » Verkaufe solide Gründerzeitstanduhr« in die Berliner Zeitung zu setzen. »Was sollen wir sagen, wenn sie zu Besuch kommt und die Uhr weg
ist?« – »Dass die Stasi sie uns weggenommen hat.« – »Darüber macht man keine Witze.«
    Irgendwann war die Standuhr Teil der Wohnung, und Gerda nahm sie kaum noch wahr. Manchmal versteckte sie Dinge im Uhrkasten, die Rudolf nicht sehen sollte. Dinge, die sie von ihrem eigenen Geld gekauft hatte und die für Rudolf reine Verschwendung waren – Schals aus dem Exquisitladen oder seidene Strumpfhosen aus dem Intershop, auch die eine oder andere Pralinenschachtel, wenn Rudolf wieder mal der Meinung war, dass sie zu dick sei. Die Sachen konnte sie nur bei Vergnügungen tragen, an denen Rudolf sich nicht beteiligte. Treffen mit Freundinnen oder bei Kinobesuchen. Rudolf hasste das Kino. Wie sie so an Rudolf denkt, beginnt sie gleich wieder mit ihm zu streiten, und dass er nicht antwortet, macht sie aggressiv. Wahrscheinlich schläft er schon. Gerda ist ganz froh, dass Tote nicht schnarchen.
    Nur die Standuhr und das Bett stehen noch an der angestammten Stelle. Alle anderen Möbel haben die Packer schon sortiert – in eine Ecke die Möbel für den Sperrmüll und in eine andere, etwas ordentlicher, die für die neue Wohnung. Beide Ecken sind gleich voll. Manche Dinge haben zum ersten Mal seit fünfzig Jahren ihren Platz gewechselt. Rudolf hat immer sehr viel Wert auf Kontinuität gelegt. Kontinuität. Das Wort liebte er, sie hat es seit seinem Tod nicht mehr verwendet, nicht einmal in Gedanken. Nachdem Rudolf ganz plötzlich gestorben war, hat es keine wirkliche Kontinuität mehr gegeben, und Gerda Schweickert fragt sich, ob das nicht gerade gut ist.
    Rudolf war Buchhalter im Treptower Elektroapparatewerk Friedrich Ebert und hielt das Leben für einen Quader, also berechenbar. Hauptsache, es gab genug Sauerstoff im Raum. Alles andere ließ sich händeln. Die Möbel mussten solide sein, wie für die Ewigkeit, ein Gedanke, bei dem es Gerda immer ein bisschen mulmig zumute wurde. Sie würden noch da sein, wenn sie längst unter der Erde lag.
    Komisch, sie kann sich nicht an Rudolfs Stimme erinnern. Fast vierzig Jahre lang lag sie neben ihm im Bett. Die Stimme ihrer
Mutter hat sie hingegen immer noch im Ohr. In ihren Träumen ruft sie aus dem Laden in die Wohnung. Sie ruft und ruft, aber Gerda kann nicht aufstehen, weil ihr die Beine so schwer sind. Die Mutter nannte sie Linchen, eine Verkleinerung von Gazelle.
    Sie steht auf, schlüpft in die Hausschuhe und geht ins Wohnzimmer. Sie zieht einen Stuhl an die Uhr, steigt darauf und holt einen Schlüssel, der hinter der geschnitzten Blende liegt, schließt die Tür auf und hält das Pendel an. Endlich Stille. Das erste Mal seit Jahrzehnten. Auch in den anderen Wohnungen rührt sich nichts. Sie ist die Letzte im Hinterhaus. Alle anderen sind schon ausgezogen.
    Auf dem Rückweg ins Schlafzimmer stößt Gerda im Flur mit dem rechten Fuß an eine der Umzugskisten und schreit auf vor Schmerz. Sie möchte den ganzen Krempel vor Wut Stück für Stück auf den Hof werfen. Ihre Mutter hat damals in der Braunsberger Straße auch alles aus dem Fenster geworfen, nur die angesengte Kommode konnte sie nicht bewegen. Und der Nachbar aus dem vierten Stock war mit brennendem Rücken aus dem Fenster gesprungen. Der Aufschlag hatte das Feuer gelöscht, aber eine Rippe hatte sich durch die Lunge gespießt. Der Nachbar röchelte schrecklich, bevor er starb. Man hatte ihn dann sogar im Holzgehäuse seiner
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