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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag
Autoren: Annett Groeschner
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rufe ich ihm in scharfem Ton zu, aber da ist schon Oberwachtmeister Gottfried neben mir auf der Granitplatte mit der Bezeichnung SW. Ich weiche rückwärts nach Kap Verde aus. Da kommt aber von hinten Bartuschewski und versucht, mich von Casablanca aus in die Zange zu nehmen. Ich muss in großen Schritten nach Moskau fliehen und schreie ihm, die Zeitung von morgen zur Flüstertüte gedreht, entgegen: »Mitten in der Stadt Berlin steht die: a) Wasseruhr, b) Atomuhr, c) Länderuhr, d) Weltzeituhr. Gewinnen Sie das Lexikon der Psychologie und erfahren Sie auf 704 reich illustrierten Seiten mit 3500 Stichwörtern alles über die menschliche Psyche.« Gottfried tritt mir aus der Richtung Jerusalem leicht, aber gezielt in die Nieren. Ich sinke auf Südsüdost. » Falsch «, sage ich gepresst. »Die korrekte Antwort lautet d), die Weltzeituhr, die vor dreiunddreißig Jahren zum zwanzigsten Jahrestag der DDR nach neun Monaten Bauzeit auf dem Alexanderplatz aufgestellt wurde. Seitdem verrät das mit einem Modell des Sonnensystems geschmückte, zehn Meter hohe« – ich muss kurz durchatmen – »und sechzehn Tonnen schwere Riesenchronometer, was weltweit die Stunde schlägt. Apropos schlagen: Nach ASOG § 23 Strich 4 sind Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit unzulässig.«
    Meine kurze Rede hat mich atemlos gemacht. Gottfried piekst gleich noch mal mit der Stiefelspitze in den Schmerz. »Hoch, Professor Unrat, auf dem Alexanderplatz ist das Liegen verboten.« – »Falsch«, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen, »ich liege in diesem Moment in Helsinki.« Bartuschewski tritt unter dem Schirm
hervor und hält seine Taschenlampe auf die Aluminiumtafel über uns: »Helsinki! Dass ich nicht lache. Was haben wir denn noch so zur Auswahl auf diesem Längengrad? Riga, Wilna, Minsk. Minsk ist nicht schlecht. Soll über eine ziemlich lasche Polizei verfügen. Da stellen die Obdachlosen jeden Abend auf dem Leninplatz ihre Betten auf und werden von den Beamten in den Schlaf gesungen. Oder wie wär’s mit Damaskus oder Jerusalem? Da würdest du nur noch als Häufchen Unglück liegen, und nachdem sie dich weggeschafft haben, würde kein Hahn mehr nach dir krähen.« – »Hey, hey«, sage ich, »Israel ist ein demokratisches Land.« – »Aber nicht, wenn du aus den besetzten Gebieten kommst. Und du kommst aus den besetzten Gebieten, das schwör ich dir. « – » Wir können ihn hier nicht liegen lassen«, sagt Gottfried, »ich kann mir keinen Ärger mehrleisten. Ansonsten droht Rollbergviertel.« Bartuschewskigrinst und verdreht die Augen. »Da ist die Minderheit in der Mehrheit. Lauter große böse Jungs.« Offenbar hat er Spaß an der Vorstellung, Gottfried könnte in Neukölln von einer Gang arabischer Jungs in die Mangel genommen werden. Dann blendet er mich mit dem Licht seiner Taschenlampe. »Da gibt’s ’ne Menge Alis, die weniger friedlich sind. Aber glaub mir, der hier ist zäher, als er aussieht, dem kannst du noch eine verpassen.« Stattdessen hält mir Gottfried seine rechte Hand hin, und ich gehe auf den Vorschlag ein aufzustehen. »Naja, ist ja auch nur so ein Planetengewirr über einer einbeinigen Hutschachtel«, sage ich, »aber finden Sie es nicht auch ein bisschen zynisch, dass man eine Weltzeituhr in einem Land aufgestellt hat, wo die Leute nur mit dem Finger über den Globus rutschen konnten? Und statt sich aufzuregen, machten die einen Treffpunkt draus, wo den ganzen Tag über aufgetakelte Dorfmiezen auf Torsten aus Doberlug-Kirchhain oder Heiko aus Kötzschenbroda warteten, die bei der Berlin-Initiative ihr Geld verdienten. Und wenn sie dann heirateten, bekamen sie eine schöne Neubauwohnung in Marzahn.«
    Ich klopfe mir den Staub von der Hose. Gleich wird Gottfried sagen, dass die Berlin-Initiative gar nicht schlecht war. So war auch er nach Berlin gekommen, als Bauarbeiter. Weil er seinen Posten als freiwilliger Helfer der Volkspolizei in der Bauarbeiterunterkunft
so vorbildlich ausfüllte und regelmäßig die Manipulationen an den Fernsehgeräten meldete, wenn jemand die Plombe, die den Konsum von Westfernsehen unterband, geknackt hatte, haben sie ihn auf die Polizeischule nach Basdorf geschickt. Seitdem ist er Polizist, auch wenn er 1990 eine andere Uniform anziehen musste und Bartuschewski ihm zugeteilt wurde, der aus einer bayrischen Beamtenfamilie stammt – fünf Generationen im Dienste von Recht und Ordnung, und die sechste ist auch schon auf der Polizeischule. Zum Glück hat er sich sein
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