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Wallander 04 - Der Mann, der lächelte

Wallander 04 - Der Mann, der lächelte

Titel: Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
Autoren: Henning Mankell
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draußen herumzutreiben. Vor ein paar Wochen war er eines Morgens einfach dagewesen, wie ein vom Meer angespültes Stück menschliches Treibgut. Normalerweise nickten ihr die Menschen, denen sie am Strand begegnete, einen Gruß zu. Es waren ohnehin nur wenige, denn es war bereits Spätherbst, bald November. Aber der Mann im schwarzen Mantel grüßte nicht. Anfangs glaubte sie, er sei vielleicht schüchtern, dann hielt sie ihn für unverschämt; möglicherweise ein Ausländer. Später hatte sie den Eindruck, er trage schwer an einer seelischen Last, als wäre er ein Pilger, der sich auf seinen Wanderungen von einem unbekannten Schmerz befreien will. Er bewegte sich unstet; manchmal ging er langsam, fast schleppend, dann wieder rannte er beinahe. Vielleicht waren es nicht die Beine, die ihn voranbrachten, sondern seine unruhigen Gedanken. Sie stellte sich auch vor, daß seine Fäuste in den Taschen geballt waren. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie war sich ganz sicher.
    Nach einer Woche hatte sie sich ihr Bild gemacht. Der einsame Mann am Strand, von dem man nicht wußte, woher er kam, war dabei, eine tiefe persönliche Krise zu bewältigen; wie |15| ein Kapitän, der sein Schiff mit unvollständigen Karten durch trügerisches Fahrwasser manövriert. Daher seine Verschlossenheit, seine Ruhelosigkeit. Sie hatte den Fall abends mit ihrem rheumakranken, vorzeitig pensionierten Mann diskutiert. Einmal hatte er sie sogar auf ihrem Spaziergang mit dem Hund begleitet, obwohl er gerade schwer von seiner Krankheit geplagt wurde und am liebsten im Haus blieb. Er gab ihr recht. Das Verhalten des Mannes schien ihm jedoch so ungewöhnlich, daß er einen guten Freund bei der Polizei von Skagen anrief und ihm von den Beobachtungen seiner Frau berichtete. Vielleicht handelte es sich um einen Mann, der geflohen war und gesucht wurde, um einen Insassen einer der wenigen noch existierenden Nervenheilanstalten des Landes. Der Polizist aber, der schon viele seltsame Gestalten zu Jütlands äußerster Spitze hatte pilgern sehen, mahnte zu Besonnenheit. Sie sollten ihn einfach in Frieden lassen. Der Strand zwischen den Dünen und den beiden Meeren, die hier aufeinandertrafen, war ein ständig sich veränderndes Niemandsland, das dem gehörte, der es brauchte.
    Die Frau mit dem Hund und der Mann im schwarzen Mantel begegneten einander auch in der folgenden Woche wie zwei Schiffe auf hoher See. Aber eines Tages, es war der 24.   Oktober 1993, geschah etwas, was sie später mit dem plötzlichen Verschwinden des Mannes in Verbindung brachte.
    Es war einer der seltenen windstillen Tage. Nebel lag reglos über Strand und Meer. Nebelhörner blökten aus der Ferne wie verlassene Kreaturen. Die eigenartige Landschaft hielt den Atem an. Plötzlich entdeckte sie den Mann im schwarzen Mantel und blieb stehen.
    Er war nicht allein. Ein nicht sehr großer Mann in heller Windjacke und Sportmütze war bei ihm. Sie hatte die beiden beobachtet. Der Neuankömmling redete auf den anderen Mann ein und wollte ihn offenbar von etwas überzeugen. Ab und zu nahm er die Hände aus den Taschen und unterstrich seine Worte mit heftigen Gesten. Sie konnte nicht verstehen, was die beiden sagten, aber der Besucher schien sehr aufgeregt zu sein.
    |16| Nach ein paar Minuten liefen sie weiter, bis der Nebel sie verschluckte.
    Am Tag darauf war der Mann wieder allein am Strand, fünf Tage später war er verschwunden. Bis weit in den November hinein ging sie jeden Morgen mit dem Hund hinaus und erwartete, dem schwarzgekleideten Mann wieder zu begegnen. Aber er kam nicht mehr. Sie sah ihn nie wieder.
     
    Über ein Jahr lang war Kurt Wallander, Kriminalkommissar bei der Polizei von Ystad, krank geschrieben und unfähig, seinen Dienst zu versehen. Während dieser Zeit hatte eine zunehmende Ohnmacht sein Leben erfüllt und seine Handlungen bestimmt. Wenn er es in Ystad nicht mehr aushielt und über genügend Geld verfügte, unternahm er immer wieder planlose kleine Reisen, in der trügerischen Hoffnung, daß es ihm anderswo bessergehen könnte, daß er vielleicht sogar seinen Lebensmut wiedergewinnen würde. Er hatte sogar eine Charterreise auf die Karibischen Inseln gebucht. Bereits auf der Fahrt zum Flughafen hatte er sich betrunken, und auch während der vierzehn Tage auf Barbados war er nie ganz nüchtern gewesen. Sein Allgemeinbefinden in jener Zeit konnte nur als wachsender Panikzustand beschrieben werden, als ein alles überlagerndes Gefühl, nirgendwo zu Hause zu sein.
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