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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe
Autoren: Lea Singer
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der wir etwas tun müssen. Ich glaube, je mehr man liebt, desto mehr will man handeln. Denn Liebe, die nur ein Gefühl ist, würde ich gar nicht als Gefühl anerkennen. R.

    2. Juli 1908
    Mein Geliebter, es macht mir Lust, und es macht mir angst, wenn Du so redest. Nachsicht ist Dir so ganz und gar fremd. Am meisten die Nachsicht gegen Dich selber. Ich küsse Dich: M.

    4. Juli 1908
    Liebste, ja: Du hast recht. Und jede Stunde mit Dir bestärkt mich.
    Ich habe nach Deinem Abschied angefangen, in den Briefen von van Gogh zu lesen, leider nur eine kleine Auswahl und französisch …
    Vieles kommt mir ganz vertraut vor, wie für mich geschrieben. »Ich fühle eine Kraft in mir, die ich entwickeln muß, ein Feuer, das ich nicht ersticken darf, |235| sondern anfachen muß, obwohl ich nicht weiß, zu welchem Ende es mich führen wird, und auch wenn es ein düsteres wäre… Unter Umständen ist es besser, der Besiegte zu sein, als der Sieger …«
    Na also. Ich begehre Dich bis zur Besinnungslosigkeit: R.

    Mühsam steht Gerstl auf und geht zum Waschbecken. Er bettet die Briefe hinein, die Notizzettel, die Kritzeleien, zu guter Letzt legt er die Zeichnung obenauf. Als er die Zündholzschachtel aufschiebt, stellt er fest, daß nur noch ein einziges Holz drin liegt.
    Die Flammen schlagen hoch. Und dann regnet es Asche, hauchfein.
    Was nun mit den drei Strümpfen und dem Batisttuch, das sie immer vorn in den Ausschnitt gestopft hatte? Er ballt alles in seinen Händen zu einem Knäuel und steckt sein Gesicht hinein. Es duftet noch immer nach ihr. Das ist schön, und das ist gefährlich.
    Kopfschüttelnd wischt er das Becken mit einem feuchten Tuch aus und fängt an, die Strümpfe und das Tuch zu waschen, sanft, zärtlich beinahe. Dann drückt er sie aus, hängt sie auf und grinst sie an. »Nun könnt ihr von jeder sein. Von irgendeiner Frau.«
    Es wird allmählich Zeit. Es ist schon vier Uhr nachmittags. Bald werden sie mit ihrem Ritual beginnen. Er weiß es, denn es war schon Ende Juni geplant und auf den 4. November festgelegt worden: ein hermetisch abgeriegeltes Konzert der Schönberg-Schüler im Großen Musikvereinssaal. Nur geladene Gäste.
    Er rasiert sich, er wäscht sich, zieht ein frisches Hemd an, frische Wäsche und Socken. Dann betrachtet er sich im Spiegel wie einen Fremden.
    |236| Ziemlich zur gleichen Zeit ziehen die ersten in den Konzertsaal ein. Mathilde steht abseits, nahe an der Tür. Es ist ihr nicht anzumerken, daß ihr die Beine auf dem Weg die Treppe hierherauf beinahe den Dienst versagt hätten.
    Webern, Krüger und auch die meisten anderen Schüler sehen Mathilde an, als sei sie von einer schweren Krankheit genesen, die sie jedoch völlig entstellt hat. Mitleidig und abgestoßen. Nur Berg und seine Helene wenden sich ihr zu, jeder nimmt eine Hand, beide schauen ihr wortlos in die Augen und sagen nichts.
    Während des Konzerts überlaufen Fieberwellen Mathildes Körper. Sie ist froh, zwischen Berg und Helene zu sitzen, die wie zwei Sessellehnen Halt versprechen.
    Was tut er? Wo steckt er? Ist er bei seinen Eltern? Nein, wohl kaum, sicher ist er in Gedanken bei diesem Abend. Ja, er wird alleine sein, allein in seinem Atelier. Malt er, zeichnet er? Trinkt er sich taub?
    Je länger ihre Gedanken um ihn kreisen, desto enger wird der Kreis. Nein: er macht nichts von alldem. Nein, er weiß genau, wann das Konzert begonnen hat, wer da ist. Er steht wahrscheinlich da – ja wo?
    Er steht in der Küche und wetzt das Messer, dieses schöne alte Messer, mit dem sie am Traunsee das Brot geschnitten hatte an jenem Tag, an dem es eigentlich in ihr entschieden wurde. Er wollte es unbedingt mitnehmen.
    Als Horwitz den Stab ablegt, nachdem er den einen Satz aus seiner neuen Sinfonie dirigiert hat, legt Gerstl das blinkende Messer auf einen Tisch vor dem großen Spiegel, wie ein Altar geschmückt mit einer weißen |237| Decke und einer Kerze. Er steigt auf den Stuhl, den er danebengestellt hat, und prüft den leeren Lampenhaken an der Decke.
    Dann öffnet er seinen Koffer und holt die abgeschnittenen Seile der Schaukel heraus.
    Er weiß, daß er bei Schmerzen Farben sieht, oft sehr schöne Farben. Welche werden es nachher wohl sein?
    Als Webern die ersten, schneidenden Akkorde seiner Passacaglia anschlägt, zuckt Mathilde so heftig zusammen, daß Berg und Helene sich ihr erschreckt zuwenden. Sie ächzt fast lautlos und greift sich an den Hals, zerrt an ihrem Stehkragen. »Es war nur so ein Stechen, hier, in der Brust«,
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