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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe
Autoren: Lea Singer
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Türe hinter sich zu.
    Sie aber bleibt stehen. Tränenlos starrt sie sich an. Wozu hat sie ihn noch, diesen Körper? Überflüssiges, nutzloses Fleisch.
    Strümpfe, Wäsche, Bluse, Rock, Schuhe. Sie kehrt zurück in jenes Abteil, das sie ihr Zimmer nennt, an ihren Schreibtisch, in die Gegenwart. Doch niemand |10| kann ihr die Erinnerung nehmen. Unwillkürlich lächelt sie. Drei Jahre hat sie gelebt. Und gelernt, was Liebe ist. Sie zieht die Schreibtischschublade auf und holt eine Horndose heraus. Braune Haare sind darin, seine Haare. Sie steckt die Nase hinein. Immer noch riechen sie nach ihm. Alles ist da, ganz nah. Und Mathilde sieht sich selbst am Anfang dieser Geschichte. Eine Frau von achtundzwanzig Jahren, geduldig, still, ohne Wünsche.

    Um drei ahnt sie noch nicht, daß sich von diesem Tag an ihr Leben verändern wird. Sie bemerkt nur, daß es muffig riecht im Wohnzimmer. Wie immer haben sie ihre feuchten Mäntel übereinander auf einem Stuhl gestapelt. Warum stört keinen von den Männern dieser Geruch? Sie will sich nicht daran gewöhnen. Dabei hat sie sich an so vieles gewöhnt. Auch daran, daß alle sich immer hier zusammenrotten, ausgerechnet in dieser düsteren engen Wohnung. »… aber sie hat durchaus ihren Reiz«, sagen Besucher meistens verlegen. Ihr Mann und sie haben versucht, mit Phantasie und ohne Geld aus den vier kleinen, hohen, schlecht geschnittenen Zimmern das Beste zu machen. Die Gründerzeitmöbel, die sie aus Berlin mithergebracht haben, sind heiter wie Beichtstühle. Deswegen haben sie die Wände im Eßzimmer gelb, in seinem Arbeitsraum türkisfarben tapeziert, die Türen und eine Kommode azurblau lackiert, alte Orientteppiche, Kelims und geerbte Kaschmirschals über das Sofa, den Diwan und den Tisch gelegt und rotgrundige Teppiche |11| auf den Boden, egal wie abgetreten oder abgenutzt sie sind.
    Ärmlich zu wohnen, damit hat sie keine Probleme. Denn verglichen mit ihrer Kindheit ist das hier prächtig. Fließend Wasser, eine Toilette, die sie nur mit ihrem Bruder teilen, der Wand an Wand mit ihnen wohnt; es ist ihr angenehm zu wissen, daß sie beim Putzen der Schüssel nur mit den Spuren von Menschen zu tun hat, die ihr vertraut sind. Und dann liegt die Wohnung in der Liechtensteinstraße, die in diesem Abschnitt zwar so wenig repräsentativ ist wie die Beiseln rechts und links, sich dafür aber im Alsergrund befindet. Im neunten Wiener Bezirk. Und der hat einen Ruf, der entschieden romantischer ist, als es Treppenhäuser mit Schwamm in der Wand, morsche Parkettböden und Zinkbadewannen in dunklen Küchen sind. Wer im Alsergrund haust, hat kein Geld, aber Einfälle, heißt es. Kein Renommee und keine Posten, aber gute Aussichten auf Nachruhm. Jedenfalls wohnen hier Maler, Psychoanalytiker, Musiker, Schriftsteller, Journalisten, Theaterleute und eben auch Komponisten wie Zemlinsky und Schönberg.
    Wie immer hält sich Mathilde Schönberg auch an diesem Nachmittag heraus aus seinem Zimmer, aus seinem Kreis. Daß die Besucher sie übersehen wie einen Einrichtungsgegenstand, wie einen Ofen, der Wärme zu spenden, aber nicht aufzufallen hat, das macht ihr längst nichts mehr aus. Denn sie erbringen dafür eine Gegenleistung: Sie machen ihren Mann erträglich. Wenn sich die Meute wieder verzogen hat, wenn sie die Asche zusammenfegt, die Aschenbecher leert, die Tassen spült, ist er immer gutgelaunt. Seine vorstehenden Augen sind dann nicht mehr voll Weltschmerz, sie |12| schauen wach, sogar optimistisch. Man müßte, denkt Mathilde dann, in Apotheken Bewunderung in Flaschen kaufen können. Auf jeden Menschen wirkt sie wie Medizin, mehr noch: wie eine Glücksdroge. Und von der verabreichen die Schüler Schönberg große Dosen. Sie sind ihm geradezu verfallen. Oft kommt es Mathilde so vor, als würden sie ihm auch noch in den Tod folgen, obwohl sie wissen, daß er keineswegs der Befreier oder gar der Erlöser ist. Es reicht ihnen, daß so viele gegen ihn hetzen und es schon fast einem religiösen Bekenntnis gleichkommt, für ihn zu sein. Das schweißt sie zusammen. Und ihre Anbetung wirkt Wunder. Auch an diesem Nachmittag. Schon als Mathilde die ersten beiden Kannen Kaffee hineinträgt, sieht sie Schönberg an, daß seine Niedergeschlagenheit sich für ein paar Stunden verkrochen hat. Wie verwandelt scheint er. Die wulstige Falte zwischen seinen Brauen ist geglättet. Doch sie hört, daß gar nicht von fachlichen Problemen die Rede ist, sondern von irgendeinem Mann, über den sie anscheinend
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