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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe
Autoren: Lea Singer
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alle einer Meinung sind. Üblicherweise läßt Mathilde das, worüber in der Schülerrunde geredet wird, an sich ablaufen. Doch heute merkt sie, wie ihre Neugier wachgekitzelt wird, schon allein von der Erregtheit, mit der sie über diesen Mann herziehen. Es könnte sich um einen Kollegen aus einem anderen Lager handeln, denn jeder erklärt ihn für verrückt. Einstimmig wird der Kerl als größenwahnsinnig verurteilt; der eine gibt seinen Kommentar erhitzt ab, der nächste abgeklärt wie ein alter Nervenarzt. Dreist, unberechenbar und hemmungslos, das sind noch die harmloseren Beschimpfungen. Wahrscheinlich, hört sie, sei die angestammte Heimat dieses Menschen der Narrenturm im Allgemeinen Krankenhaus, |13| ordentlich vergittert. Aufgebracht reden sie durcheinander, die Stimmung schaukelt sich hoch. Zurück in der Küche kann sie zwar die Worte nicht verstehen, doch sie hört, wie ungemütlich gereizt es klingt. Was kann das für ein Mensch sein, der diese sonst friedlichen Jünger derart feindselig stimmt? Was hat er ihnen angetan oder weggenommen, daß sie ihre kostbare Zeit beim Meister damit verschwenden, sich über diesen Außenstehenden das Maul zu zerreißen? Als sie fertig ist mit dem Abwasch des Mittagessensgeschirrs, sind die Schüler offenbar zurückgekehrt zum Thema Musik. Sie hört ihren Mann sprechen, Fragen zwischendrin, die übliche Geräuschkulisse. Aber als sie dann das Tablett mit Kannen, Tassen, Obers und Zucker zum zweiten Mal auf dem Beistelltisch absetzt, bricht das Geifern schon wieder los. »Er hat es zuerst bei Mahler versucht«, empört sich einer. »Und bei Ansorge soll er es auch probiert haben.« Sie haben noch mehr geraucht als sonst, und mit dem Geruch der regennassen Mäntel vermischt sich das zu einem schimmeligen, beißenden Gestank. Trotzdem geht sie nur ganz langsam zur Tür. »Bei Mahler! Wie kann er sich das nur herausnehmen! Der Kerl ist ja schamlos.« Und schon fast aus dem Zimmer, hört sie, wie einer ihren Mann begierig fragt: »Sag mal: Hat er sich an dich auch schon rangemacht?«
    Die Küchenuhr zeigt Viertel nach fünf. Und sie ertappt sich dabei, wie sie unablässig versucht, sich ein Bild von diesem Mann zu machen. Von seiner Statur, seinem Blick, seiner Stimme. Bestimmt ist er groß und gutgewachsen, wahrscheinlich spricht er dunkel und leise, eher zögernd. Und sein Blick, der muß etwas haben, was irritiert, möglicherweise bedrängt, jedenfalls |14| etwas Ungewöhnliches. Kopfschüttelnd lächelt sie in sich hinein, weil sie feststellt, daß sie sich den Unbekannten schön und sympathisch denkt, so als wollte sie ihn mit dieser Vorstellung verteidigen gegen die Angriffe der anderen. Da ahnt sie zum ersten Mal, daß dieser Verrückte etwas für sie bedeuten wird. Glück oder Katastrophe? Nein, davon spürt sie nichts. Nur daß er mit ihr etwas zu tun haben wird – dieses Gefühl nistet sich ein in Mathilde.
    Um sechs ist schlagartig Ruhe. Während sie im Durchzug die Stühle zurechtrückt, Asche auffegt und Kaffeepfützen von den Möbeln wischt, summt sie vor sich hin. Mahler. Mahler ist erlaubt. Seit ein paar Jahren allerdings erst, denn davor hat ihr Mann den berühmten Kollegen verachtet, den er nun gegen alle und jeden verteidigt, den er verklärt und zum Heiligen erhebt. Zwei Juden und Heiligenkult? Im Grunde leicht zu verstehen, findet Mathilde, denn wenn die Hochbegabten von all den bekennenden oder heimlichen Antisemiten in der Stadt angefeindet werden, ist es nur natürlich, wenn sie sich füreinander mehr entzünden, als es ihrem Charakter eigentlich entspräche. Denn insgeheim fällt ihnen das Bewundern schwer, und jeder möchte an seine Einzigartigkeit glauben; muß es ja auch, um durchzuhalten.
    Genies unter sich – sie lächelt, wie üblich fast ohne die Mundwinkel zu heben, während sie direkt im Rücken ihres Ehemanns kehrt. Er sitzt schon wieder am Schreibtisch und arbeitet. Sie weiß, mit welchem Ergebnis: dafür, daß sie ihn wieder verspotten und niederbrüllen werden und öffentlich empfehlen, ihn in eine geschlossene Abteilung einzuweisen. Bizarr, denkt sie; Schönbergs Feinde schmähen ihn als geisteskrank, |15| Schönbergs Freunde aber bedienen sich derselben Vokabeln, wenn es einen anderen niederzumachen gilt.
    Ihren Mann, das weiß sie, treiben solche Beschimpfungen in eine schwarze Stimmung, doch nie könnten sie ihn daran hindern, genauso weiterzumachen. Ob sich in diesem Trotz Genie zeigt, hat sich Mathilde schon oft gefragt. Und sie
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