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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe
Autoren: Lea Singer
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Rest von jenem Rotwein, dem Rotwein ihres letzten gemeinsamen Abends, des jäh abgeschnittenen.
    Dieses Zu-Ende-Gehen der Vorräte gefällt ihm. Es gibt dem, was er vorhat, etwas Zwangsläufiges, beinahe Natürliches. So, als wäre es innerhalb weniger Tage Winter geworden. Nur das Beseitigen der Spuren, die alle an sie erinnern, das kostet ihn Überwindung, sehr viel mehr als erwartet. Ihr Haar, dieses Stück rotbraunes Fell, das sie für ihn abgeschnitten hatte, eine Reliquie in einer Keksdose. Er mußte es küssen, bevor er es verbrannte. Ihre Haarnadeln. Er nimmt eine zwischen Daumen und Zeigefinger. Natürlich könnte er sie einfach in die Toilette werfen, aber haben sie nicht ein würdigeres Ende verdient? Plötzlich lacht er: Haarnadeln sind doch anonym. Jeder Maler hat Modelle, und jedes Modell besitzt solche Nadeln. Er legt sie auf einen Beistelltisch im Atelier. Jetzt das Papier, es ist ja eigentlich nichts als Papier. Ihre Briefe und seine Briefe, die sie an einem Regennachmittag einmal sortiert und zusammengefügt hatte zu einem jener vielen Kurzromane, die nie mehr gelesen werden. Und dann hiergelassen hatte bei ihrem überstürzten Abschied.
    Er schaut auf die Uhr. Ist noch Zeit? Ja, ausreichend. Der Sessel, dieser Sessel, in dem sie feucht saß, nachdem sie fürsorglich eine Decke hineingebettet hatte – darin könnte er ein paar wenigstens lesen, bevor er sie in den Flammen erstickt. Lang sind sie ja nicht. Wie in |232| einen Packen Spielkarten greift er hinein in den Stapel und zieht eine Lage heraus.

    10. Dezember 1907
    Liebster! A. verbietet mir, dich zu sehen. T. hat uns verraten – mein Gott, das unschuldige Kind. Sie tut mir leid, ich kann ihr nicht böse sein. Sei Du ihr bitte auch nicht böse. Was sollen wir tun? M.

    11. Dezember 1907
    Geliebte. Hat er Dir nur verboten, mich zu sehen, oder hat er gefragt, ob oder vielleicht sogar warum du mich liebst? Und egal wie: Komm. Was hält Dich noch? Die Zeit der Kompromisse ist vorbei. R.

    12. Dezember 1907
    Liebster, gefragt hat er nichts. Kein Wort. Wie sollte er auch. Schließlich hat er auch nichts bemerkt, wenn ich, nach ein paar Stunden mit dir, verwandelt zurückgekommen bin. Aber was redest du von Kompromissen? Meine Kinder haben Namen. Halbkrank: M.

    13. Dezember 1907
    Geliebte, ich giere nach dir. Mein Körper ist in Aufruhr, er tut nicht, was ich will, sondern was er will. Meine Hände zittern, ich finde keinen Schlaf. Ich bin kaltschweißig, fahrig und außerstande, irgend etwas Vernünftiges zu tun. Erlöse mich. R.

    14. Dezember 1907
    Liebster, ich verrichte meine tägliche Arbeit wie in Trance. Ich sehe meinen Händen zu, wie sie waschen und schneiden und kämmen, Rüben schälen, Kinder |233| ausziehen, Staub wischen. Und dabei empfinde ich nichts, absolut nichts. Es ist unerträglich. Ein Kadaver, der sich bewegt. Was tun wir? M.

    15. Dezember 1907
    Geliebte, ich kann Dich ja reden hören, ohne Dich zu hören, ich kann Dich sehen, ohne Dich zu sehen, ich kann sogar Deinen Geruch einatmen, ohne daß Du da bist. Aber spüren, ohne Dich zu spüren, das kann ich nicht. Bitte komm. Bevor meine Hände den Verstand verlieren. R.

    17. Dezember 1907
    Liebster – ich lebe wieder. In weniger als zwei Stunden hast du mich wieder belebt. Und die Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn er es herauskriegt, ist fast verschwunden. Was kann uns schon passieren? Ach, wenn ich nur nicht so vielen weh täte – M.

    20. Dezember 1907
    Geliebte, nein. Ich will Dir und Deinem Leben keine Gewalt antun. Ich werde Dich niemals gegen Deinen Willen herausreißen aus diesem Geflecht aus Kindern und Freunden und Verpflichtungen und Verantwortungen. Du würdest ja bluten. Aber mich – mich kann ich aus allem herausreißen. Und ich bin lieber mit Dir zusammen einsam als unter vielen ohne Dich verloren. Habe ich Dich, brauche ich nichts sonst. Und wenn sie mir Dich nähmen, dann bräuchte ich ohnehin nichts mehr. Gar nichts mehr. R.

    Gerstl sieht auf die Uhr, dann auf den Stapel Briefe. Einen noch oder zwei.

    |234| Er kneift die Augen zu, greift noch mal hinein und zieht vier.

    30. Juni 1908
    Geliebter, er will Dich einladen. Dich auf unseren Urlaub an den Traunsee! Ich werde verrückt. Was hat er vor? Ist das eine List? Will er uns in eine Situation bringen, die ihm erlaubt, tätlich zu werden, uns umzubringen im Affekt? M.

    1. Juli 1908
    Nein, Liebste, sicher nicht. Er kennt diese Art Affekte nicht. Kann nur sein, daß eine Situation entsteht, in
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