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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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wäre.
    »Beim nächsten Mal machen wir dich richtig fertig«, hörte er nur noch wie durch einen Nebel hindurch. Danach gingen die beiden ohne Hast die Treppe hinunter.
    Sommerfeld stürzte in sein Bad, riss den Spiegelschrank auf, nahm die Schachtel mit den L-Dopa-Tabletten, brach drei bis vier aus dem Blister und schüttete sie sich in den Mund. Er bückte sich über den laufenden Wasserhahn, um mit dem sprudelnden kalten Wasser die bitteren Tabletten nachzuspülen. Dann spritzte er sich kaltes Wasser in sein Gesicht. Er richtete sich am Waschbecken auf und schaute sich im Spiegel an. Das war die Kriegserklärung. Nun würde er in den Kampf ziehen. Zuerst jedoch musste er den Angriff exakt planen und dabei seine Bataillone sammeln. Mit einem Filzstift bedeckte er hektisch die weiße Fläche der Schlafzimmertür mit Linien und Kreuzen. Dies war der Schlachtplan, damit würde er Herrn Corelli dingfest machen. In der Mitte das Angriffsziel, ein großes »C« für Corelli, dann die Pfeile, die die Stoßrichtungen seiner Angriffe symbolisierten. Er nahm rot für die Umgehungsstraße und schwarz für das Kampfgetümmel. Es erfasste ihn eine solche Raserei, dass er nicht nur die Tür, sondern auch die Wand drum herum vollkritzelte. Er merkte verstärkt das nervöse Wuseln um sich herum, wie gut, die verbündeten Heerscharen formierten sich und würden ihm zur Seite stehen. Dann schluckte er noch einmal die drei- bis vierfache Dosis des L-Dopa rasch mit etwas Apfelsaft hinunter. Dieses Mal wollte er Nägel mit Köpfen machen. Gewalt nur, wenn es unbedingt notwendig sein würde, ansonsten listige Ermittlungen und Recherchen. Er zog sich eine schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover an, bepackte seinen Rucksack noch mit einer schwarzen Skimaske, Handschuhen und einigen Werkzeugen und stürzte aus dem Haus. Dieses Mal fuhr er zum städtischen Fuhrpark. Das Gelände war von einem hohen Zaun mit Stacheldrahtkrone umgeben. Dieses Mal würde er, unterstützt von den zähnefletschenden Mitkämpfern, die unruhig über seinen Köpfen schwirrten, frontal angreifen. Er schnitt mit einem Drahtschneider eine Lücke in den Zaun und lief zwischen den parkenden Fahrzeugen auf das Bürogebäude zu. Er hörte gerade noch das kehlige Knurren, bevor ihn der Schäferhund ansprang und seine scharfen Zähne in den rechten Oberarm grub. Ihn durchfuhr ein heller Schmerz, der ihn allerdings nur dazu anstachelte, weiterzulaufen, um möglichst schnell die feindliche Festung zu erreichen. Als er mit dem Bolzenschneider das Fenster zum Büro des privaten Wachdienstes zertrümmerte, kam ein Angestellter heraus und packte ihn an den Beinen. Nachdem er den Schäferhund von dem Angreifer weggezerrt hatte, versetzte er ihm noch ein paar Schläge ins Gesicht, um ihn zu beruhigen, wie er später aussagte. Dann ging er in sein Büro, um Polizei und Krankenwagen zu benachrichtigen.
    »Herr Sommerfeld ist wieder in der Unfallchirurgie aufgenommen worden«, berichtete am nächsten Morgen der diensthabende Arzt beim Rapport. »Er hat eine Gehirnerschütterung, einen Nasenbeinbruch und Hundebisswunden am rechten Oberarm. Offensichtlich hat er sich wieder zusätzliche Medikamente besorgt und zu halluzinieren begonnen.«
    »Offensichtlich ist die Dopamin-Sucht doch stärker, als wir es eingeschätzt haben. Ungewöhnlich ist, dass er seine fixe Idee, gegen die Mafia ankämpfen zu müssen, immer wieder in reale Aktionen umsetzen muss. Eine optimale Einstellung der Parkinsonerkrankung reicht nicht aus, wir dürfen die zusätzliche psychiatrische Behandlung nicht vergessen«, sagte ich, bevor ich auf die Station ging, um mit dem Patienten zu reden.
    Später beschlossen wir, ihn längerfristig in eine Rehabilitationsklinik zu überweisen, die sowohl auf die Behandlung von Parkinsonpatienten als auch von Suchtkranken spezialisiert war. Es war nicht einfach, solch eine Klinik ausfindig zu machen; schließlich konnte unsere Sozialarbeiterin ihn in einem Zentrum in Thüringen unterbringen, welches auch weit genug weg von seinem Zuhause war.
    Etwa drei Wochen später las ich morgens in der Zeitung folgende Meldung: »Aus ungeklärter Ursache ist das Bürogebäude eines Autohauses abgebrannt. Die Polizei vermutet Brandstiftung.« Ich war unangenehm berührt, als mir bewusst wurde, dass es sich um dasselbe Autohaus handelte, das Sommerfeld seinerzeit überfallen hatte. Ich rief noch am selben Tag den Kollegen im Thüringer Rehabilitationszentrum an und erfuhr, dass
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