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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Autoren: Alexis Jenni
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KOMMENTAR I
    Der Aufbruch des Spahi-Regiments aus Valence in die Golfregion
    D ie ersten Wochen des Jahres 1991 waren durch die Vorbereitungen auf den Golfkrieg und meine ständig zunehmende Unverantwortlichkeit gekennzeichnet. Der Schnee bedeckte alles, blockierte die Züge, dämpfte die Geräusche. In der Golfregion war die Temperatur zum Glück gefallen, die Soldaten brieten nicht mehr ganz so stark in der Sonne wie im Sommer, als sie sich mit nacktem Oberkörper mit Wasser übergossen, ohne die Sonnenbrille abzunehmen. Ach, diese schönen Soldaten im Sommer, von denen kaum einer starb! Sie leerten ganze Flaschen über dem Kopf aus, deren Wasser über ihre Haut rieselte, sofort verdampfte und ihren athletischen Körper mit einem regenbogenfarbenen Glorienschein umgab. Sechzehn Liter mussten die Soldaten im Sommer jeden Tag trinken, sechzehn Liter! Das Fernsehen verbreitete Zahlen, und die Zahlen setzten sich in den Köpfen fest, wie sie sich stets festsetzen: mit großer Präzision. Gerüchte über Zahlen wurden verbreitet, die vor dem Angriff von Mund zu Mund gingen. Denn er würde stattfinden, dieser Angriff auf die viertgrößte Armee der Welt, die unbesiegbare Armee des Westens würde sich bald in Marsch setzen, und auf der anderen Seite würden sich die Iraker hinter eng gewickelten Stacheldrahtrollen im Sand verschanzen, hinter Schrapnellminen und verrosteten Nägeln, hinter Gräben voller Erdöl, das sie im letzten Moment anzünden würden, denn Erdöl hatten sie ja mehr als genug. Im Fernsehen wurden Einzelheiten berichtet, die stets sehr genau waren, man durchsuchte aufs Geratewohl die Archive. Das Fernsehen zeigte Bilder aus der Zeit davor, neutrale, nichtssagende Bilder; man wusste nichts über die irakische Armee, nichts über ihre Stärke oder ihre Stellungen, man wusste nur, dass sie die viertgrößte Armee der Welt war, das wusste man, weil es unablässig wiederholt wurde. Zahlen prägen sich ein, denn sie sind von schöner Klarheit, man erinnert sich an sie und glaubt an sie. Und das zog sich in die Länge, das zog sich immer mehr in die Länge. Das Ende all dieser Vorbereitungen war nicht mehr abzusehen.
    Anfang 1991 arbeitete ich kaum noch. Ich ging zur Arbeit, wenn mir nichts mehr einfiel, um meine Abwesenheit zu rechtfertigen. Ich besuchte Ärzte, die mich wider Erwarten krankschrieben, ohne mir Gehör zu schenken, und bemühte mich anschließend, die Bescheinigung zu fälschen, um die Dauer der Krankschreibung noch zu verlängern. Abends zeichnete ich im Licht einer Schreibtischlampe die Zahlen nach und hörte dabei Platten über Kopfhörer, wobei sich mein Universum auf den Lampenschein reduzierte, auf den Abstand zwischen meinen beiden Ohren, auf die blaue Kugelschreiberspitze, die mir immer mehr Freizeit gewährte. Ich übte mich zunächst in einer Kladde und veränderte dann mit sicherem Strich die Zeichen, die der Arzt geschrieben hatte. Auf diese Weise verdoppelte oder verdreifachte ich die Anzahl der Tage, an denen ich im Warmen, fern von meiner Arbeitsstelle bleiben konnte. Ich erfuhr nie, ob das Verändern der Zeichen, das Überschreiben der Zahlen mit einem Kugelschreiber genügte, um die Wirklichkeit zu verwandeln, um dem allem zu entgehen, ich fragte mich nie, ob die Sache noch an anderer Stelle als auf dem ärztlichen Attest vermerkt werden würde, aber warum auch; meine Firma war so schlecht organisiert, dass man es manchmal nicht einmal bemerkte, ob ich da war oder nicht; als wäre meine Abwesenheit völlig egal. Ich fehlte, und mein Fehlen wurde nicht bemerkt. Und daher blieb ich im Bett.
    An einem Montag zu Beginn des Jahres 1991 hörte ich im Radio, dass Lyon durch den Schnee von der Außenwelt abgeschnitten war. Die nächtlichen Schneefälle hatten die Kabel reißen lassen, die Züge blieben im Bahnhof, und jene, die draußen überrascht worden waren, bedeckten sich mit dicken weißen Decken. Die Menschen in den Zügen bemühten sich, nicht in Panik zu geraten.
    Hier in Nordfrankreich fielen nur ein paar Flocken auf die Schelde, aber dort unten regte sich nichts mehr, bis auf große, von Autoschlangen gefolgte Schneepflüge, und Hubschrauber, die abgeschnittenen Weilern zu Hilfe kamen. Ich freute mich, dass es an einem Montag geschah, denn hier wusste man nicht, was Schnee war, die Leute würden völlig übertreiben und die Sache angesichts der Bilder, die im Fernsehen gezeigt wurden, zu einer rätselhaften Katastrophe aufbauschen. Ich rief bei meiner dreihundert Meter
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