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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Autoren: Alexis Jenni
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schwach.
    »Sehen Sie sich den Bildschirm an. Ich müsste Sie eigentlich wegen Fehlverhaltens feuern.«
    Er tippte weiterhin mit dem Radiergummi auf das Diagramm, was sich anhörte als würde ein Gummiball auf und ab hüpfen, und schien nachzudenken.
    »Aber vielleicht gibt es ja noch eine andere Lösung.«
    Ich hielt den Atem an. Die Niedergeschlagenheit wich der Hoffnung; auch wenn es einem eher gleichgültig ist, lässt man sich nicht gern hinauswerfen.
    »Wegen des Krieges geht es mit der Konjunktur abwärts. Daher müssen wir einen Teil unserer Belegschaft entlassen, und das tun wir ordnungsgemäß nach geltendem Arbeitsrecht. Sie sind bei der nächsten Welle dabei.«
    Ich nickte. Was sollte ich darauf schon erwidern? Ich betrachtete die Zahlen auf dem Bildschirm. Die in ein Diagramm verwandelten Zahlen verdeutlichten gut, was verdeutlicht werden sollte. Ich sah meine wirtschaftliche Leistung, unbestreitbar. Zahlen brauchen keine Sprache, sie sprechen für sich selbst; Zahlen nehmen einem den Atem, sodass man in der dünnen Luft mathematischer Sphären mit offenem Mund nach Sauerstoff ringt. Ich stimmte ihm einsilbig zu, war glücklich darüber, dass er mich ordnungsgemäß und nicht wie einen Betrüger entließ. Er lächelte und machte dabei so etwas wie eine entschuldigende Handbewegung, als wolle er sagen: »Ach, das ist doch selbstverständlich … Ich weiß nicht, warum ich das tue. Aber verschwinden Sie jetzt, ehe ich mich anders besinne.«
    Ich verließ rückwärts den Raum und ging. Später erfuhr ich, dass er bei all denen, die er entließ, die gleiche Schau abzog. Er schlug jedem vor, großzügig über dessen Fehler hinwegzusehen, wenn er bereit sei, seiner Entlassung zuzustimmen. Anstatt zu protestieren, dankte ihm jeder. Noch nie ist eine Massenentlassung so glatt über die Bühne gegangen: Ein Drittel der Belegschaft stand auf, bedankte sich und ging; das war alles.
    Man führte diese Maßnahme auf den Krieg zurück, denn Kriege haben bittere Folgen. Man kann nichts dafür, der Krieg ist schuld. Man kann die Wirklichkeit nicht abwenden.
    Noch am selben Abend packte ich meine Sachen in Kartons, die ich mir aus dem Supermarkt geholt hatte, und beschloss, dorthin zurückzukehren, wo ich hergekommen war. Mein Leben war beschissen, und daher kam es nicht darauf an, wo ich sein würde. Ich hätte gern ein anderes Leben geführt, aber ich bin der Erzähler. Und der Erzähler kann nicht alles tun: er muss in erster Linie erzählen. Wenn ich, außer zu erzählen, auch noch leben müsste, käme ich nicht zurande. Warum schreiben so viele Schriftsteller über ihre Kindheit? Weil sie kein anderes Leben gehabt haben: die übrige Zeit haben sie damit verbracht, zu schreiben. Die Kindheit war die einzige Zeit, in der sie gelebt haben, ohne an etwas anderes zu denken. Seither schreiben sie, und das nimmt ihre ganze Zeit in Anspruch, denn Schreiben erfordert Zeit so wie Stickerei einen Faden erfordert. Und man hat nun mal nur einen Faden.
    Mein Leben ist beschissen und ich erzähle; eigentlich würde ich lieber etwas abbilden, aber dazu müsste ich zeichnen können. Ich wünschte mir, dass meine Hand eine Bewegung vollführte und dass das ausreichte, um etwas abzubilden. Aber Zeichnen erfordert Geschick und das Erlernen einer Technik, während Erzählen eine menschliche Funktion ist: Man braucht nur den Mund zu öffnen und den Atem herauszulassen. Atmen muss ich ja sowieso, und reden läuft auf das Gleiche hinaus. Und daher erzähle ich, auch wenn die Wirklichkeit immer entwischt. Ein Kerker aus Atem ist eben nicht sehr solide gebaut.
    Dort oben in Nordfrankreich hatte ich die schönen Augen meiner Freundin bewundert, mit der ich mich so gut verstand, und ich hatte versucht, diese Augen zu beschreiben. »Be-Schreiben« ist ein Wort, das gut zum Erzählen passt, aber auch gut zu meiner Inkompetenz als Zeichner: Ich zeichnete sie, und das Ergebnis war eine Kritzelei. Ich bat sie, mir mit offenen Augen Modell zu sitzen und mich anzusehen, während meine Buntstifte über das Papier glitten, aber sie wandte den Blick ab. Ihre schönen Augen wurden feucht, und sie weinte. Sie verdiene es nicht, dass ich sie ansehe, sagte sie, und erst recht nicht, dass ich sie male oder zeichne oder abbilde, sie erzählte mir von ihrer Schwester, die viel schöner sei als sie, mit herrlichen Augen und traumhaftem Busen, eine Frau, wie man sie früher in Holz geschnitzt auf dem Bug von Segelschiffen sah, sie dagegen … Dann musste ich
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