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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Autoren: Alexis Jenni
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der auf sich warten ließ. Bisher hatte ich meist eine leichte Langeweile, einen ironischen Abstand und eine Vorliebe für geistige Höhenflüge vorgetäuscht, die ich verlässlicher, erholsamer und sehr viel amüsanter fand als die erdrückende Last der Realität. Sie fragte mich, was ich mir da ansähe.
    »Ich hätte gern so einen großen Brummer gefahren«, sagte ich. »Einen von diesen sandfarbenen LKW s mit Profilreifen.«
    »Aber das ist doch was für kleine Jungen, und du bist kein kleiner Junge mehr. Ganz und gar nicht mehr«, fügte sie hinzu und legte mir dabei die Hand auf jenes schöne Organ, das ein Eigenleben führt, ein eigenes Herz und somit seine eigenen Gefühle, Gedanken und Bewegungen hat.
    Ich erwiderte nichts, denn ich war mir nicht sicher, und schmiegte mich wieder an sie. Wir waren offiziell krank und vom Schnee blockiert, und derart abgesichert hatten wir den ganzen Tag, die kommende Nacht und den folgenden Tag für uns; bis uns der Atem ausging und die Körper erschöpft waren.
    In jenem Jahr blieb ich auf fast krankhafte Weise der Arbeit fern. Ich dachte Tag und Nacht nur über die Möglichkeiten nach, mich abzuseilen, eine ruhige Kugel zu schieben, zu faulenzen und mich an ein schattiges Plätzchen zu verziehen, während die anderen sozusagen im Gleichschritt marschierten. Ich zerstörte in wenigen Monaten allen gesellschaftlichen Ehrgeiz, alles Berufsethos, alles Standesbewusstsein, das ich je besessen haben mochte. Schon im Herbst hatte ich die Kälte und die Feuchtigkeit ausgenutzt, die als Naturphänomene nicht hinterfragt werden können: Ein Kratzen in der Kehle genügte, um mich krankschreiben zu lassen. Ich blieb der Arbeit fern, vernachlässigte meine Angelegenheiten und besuchte nicht immer meine Freundin.
    Was ich tat? Ich ging durch die Stadt, setzte mich in ein Café, las in der öffentlichen Bibliothek wissenschaftliche oder historische Werke, kurz gesagt, ich tat alles, was ein alleinstehender Mann, der nicht unbedingt nach Hause gehen will, in einer Stadt tun kann. Und meistens tat ich nichts.
    Ich habe keine Erinnerungen an jenen Winter, nichts Konkretes, nichts, was sich erzählen ließe, aber wenn ich im Radio den Jingle von France Info höre, der die Kurznachrichten ankündigt, werde ich derart melancholisch, dass mir klar wird, dass ich wohl nur das eine getan habe: auf die Nachrichten aus aller Welt zu warten, alle Viertelstunde, wie die Schläge einer großen Uhr, der Uhr meines Herzens, das damals sehr langsam schlug, der Uhr der Welt, mit der es eindeutig abwärts ging.
    Es gab einen Personalwechsel in meiner Firma. Mein Vorgesetzter hatte immer nur ein Ziel gehabt: abzuhauen, und schließlich hat er es geschafft. Er fand etwas Neues, überließ seine Stelle jemand anderem, der die Absicht hatte, zu bleiben und daher Ordnung schaffte.
    Die zweifelhafte Kompetenz meines ehemaligen Vorgesetzten und sein Wunsch, sich abzusetzen, hatten mich geschützt; der Ehrgeiz seines Nachfolgers und sein Einsatz von Spitzentechnologie wurden mir zum Verhängnis. Der Schuft, der weggegangen war, hatte, ohne mir etwas davon zu sagen, alle Einzelheiten über mein Fehlen festgehalten. Auf Karteikarten hatte er Anwesenheit, Verspätung und Arbeitsleistung notiert; alles, was messbar war, hatte er aufgeschrieben. Das hatte ihn, während er davon träumte, sich abzusetzen, beschäftigt gehalten, aber er hatte kein Wort darüber verlauten lassen. Dieser Zwangsneurotiker ließ die Kartei in seinem Büro zurück; sein ehrgeiziger Nachfolger hatte eine spezielle Ausbildung absolviert, wie man Betriebskosten einspart. Jede Information war dabei hilfreich; er nahm das Archiv unter die Lupe und entließ mich.
    Das Programm Evaluaxe stellte meine Leistungsfähigkeit im Rahmen der Firma in einem Diagramm grafisch dar. Die meisten Kurven stagnierten knapp über der x-Achse. Eine rote Kurve dagegen verlief seit den Vorbereitungen zum Golfkrieg in gezackter Linie nach oben und blieb dort. Weiter unten zeigte eine ebenfalls rote gepunktete horizontale Linie die Norm an.
    Der Mann tippte mit einem sorgfältig angespitzten Bleistift mit Radiergummi, den er nie zum Schreiben benutzte, auf den Bildschirm, um auf gewisse Einzelheiten hinzuweisen. Meine mit einem Kugelschreiber gefälschten ärztlichen Atteste waren solchen Hilfsmitteln wie einer sorgfältig geführten Kartei und einem Grafikprogramm zur Erzeugung unbestreitbarer Kurven nicht gewachsen. Meine Leistungsfähigkeit war ganz offensichtlich sehr
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