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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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der Patient Sommerfeld tatsächlich an diesem Wochenende Urlaub bekommen hatte, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Er habe bei den Therapien eifrig mitgetan und einen völlig geordneten Eindruck gemacht.

DER TAUSCH
    Robert Degen joggte auf dem Wanderweg neben dem Flüsschen aus der Stadt hinaus in Richtung Fischerdorf am Meer. Nur selten kam ihm ein Spaziergänger mit Hund oder ein anderer Läufer entgegen. Es war ein grauer Dienstagvormittag. Ab und zu sah er einen Angler am Ufer stehen und auf den großen Fang warten. Die Anstrengung des Laufens tat ihm gut. Durch den monotonen Rhythmus des Laufschritts fand er innere Ruhe und kam endlich dazu, über sich nachzudenken. Die letzten Wochen waren für Robert ziemlich stressig und aufregend gewesen. Erst vor kurzem hatte er seine Frau und die beiden Kinder verlassen und war zu Susanne gezogen. Komische Geschichte, so ein Wechsel. Als ob alles austauschbar wäre, die Menschen, die Umgebung, die Gefühle. An den Alltag mit Susanne musste er sich noch gewöhnen, bisher hatte er sie nur im Bett und in entspannten Urlaubssituationen erlebt. Jetzt vermisste er vor allem seine Kinder, den siebenjährigen Alexander und Nele, die schon elf war. Er hatte bei der Trennung von seiner Ehefrau Gudrun versprechen müssen, zunächst keinen Kontakt zu den Kindern aufzunehmen. »Bis sich die Situation beruhigt hat«, hatte sie gesagt, als es damals darum ging, die Trennung Schritt für Schritt zu realisieren. Er war immer jemand gewesen, der viel gearbeitet hatte, er war nie ein Vater gewesen, der sich ständig um die Kinder gekümmert hat, aber wie mit einem unsichtbaren Faden ist er immer mit ihnen verbunden gewesen. Wenn sie ihn gebraucht hatten, war er stets für sie da gewesen. Jetzt hatte er sie verlassen und lebte mit Susanne und deren Kindern zusammen, die ihm fremd waren. Wenn sie lauter wurden, quengelten, oder schlicht nur herumtollen wollten, war er von ihnen genervt. Wohingegen er über jede Lebensäußerung von Alexander und Nele stolz gewesen war und sie als Ausdruck ihrer überschäumenden Intelligenz gepriesen hatte.
    Jetzt war er aus der Stadt herausgelaufen und sah die herbstlichen Felder in der Abenddämmerung vor sich liegen. Die Entfernung zwischen der neuen Wohnung und dem Fischerdorf betrug acht Kilometer, den Rückweg mitgerechnet waren es sechzehn Kilometer, die er dreimal in der Woche lief, dazu kamen noch die Abende im Fitnessstudio. Trotz seiner zweiundvierzig Jahre fühlte er sich fit und leistungsfähig. Seinen Job als Geschäftsführer einer Computerfirma bewältigte er mühelos. Ebenso mühelos wie den heutigen Lauf, bei dem er das Gefühl hatte, er würde über dem Boden schweben. Allerdings spürte er seit Beginn des Laufes ein leichtes Ziehen, welches von der linken Halsseite in die linke Gesichtsregion ausstrahlte. Eigentlich war es mehr als ein leichtes Ziehen, es war ein sich immer mehr verstärkender schmerzhafter Druck. Er nahm sich vor, schon morgen den Zahnarzt aufzusuchen, um sein Gebiss durchchecken zu lassen. Die durch das Laufen verursachten Erschütterungen verstärkten den dumpfen Schmerz auf unangenehme Weise.
    Dann bemerkte er, dass sich seine rechte Hand wie eingeschlafen anfühlte. »Ich werde mich hinsetzen müssen und etwas ausruhen, dort hinten steht eine Bank«, dachte er noch, als er mit seinem rechten Bein einknickte und stürzte. Als er um Hilfe rufen wollte, entwichen ihm lediglich ein paar unartikulierte Laute.
    Kurze Zeit später war ein Medizinstudent, der hinter Robert gelaufen war und gesehen hatte, wie er gestrauchelt und gefallen war, bei ihm. Er beugte sich über den stöhnenden, ihn mit großen Augen anstierenden Robert. Offensichtlich wollte dieser etwas sagen, war dazu aber nicht in der Lage; sein Gesicht war verzerrt und dicke Speichelfäden flossen aus dem rechten, schlaff herabhängenden Mundwinkel. Der Student tat das einzig Richtige: Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte 112. Er teilte mit, dass Hilfe gebraucht würde, Lebensgefahr, wahrscheinlich ein Schlaganfall.
    Ein paar Stunden später am selben Tag machte ich Visite auf der Stroke Unit, der Spezialstation für Schlaganfallpatienten. Eine Schwester machte mich darauf aufmerksam, dass die Lebensgefährtin des heute aufgenommenen jungen Schlaganfallpatienten im Besucherraum saß und völlig verstört wirkte. Ich ging hin und setzte mich neben Susanne Gutwind, die wie versteinert zum Fenster hinausschaute. Ich erklärte ihr, dass Robert einen
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