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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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untersuchte den Patienten und schrieb meinen Konsiliarbericht: »Hocherregter Patient, akut psychotischer Zustand. Diagnose: Morbus Parkinson. Aktuell: L-Dopa-Überdosierung mit Psychose.«
    Ich schlug vor, die Parkinsonmedikamente zu reduzieren und ein festes Einnahmeschema einzuhalten. Außerdem empfahl ich regelmäßige Krankengymnastik. Als ich das streng bewachte Gebäude verließ, war ich froh, den Patienten Eberhard Sommerfeld in der behüteten Umgebung der forensischen Psychiatrie zu wissen, wo er weder sich noch andere gefährden konnte.
    Einige Wochen später fand ich auf der Liste der Patienten, die an diesem Vormittag unsere Klinikambulanz konsultierten, den Namen »Eberhard Sommerfeld«. Ich verständigte den zuständigen Arzt, dass er mich benachrichtigen sollte, sobald er ihn untersucht hatte. Als ich das Ambulanzzimmer betrat, saß Herr Sommerfeld ruhig in dem kleinen Sessel vor dem Arztschreibtisch. Er war nicht wiederzuerkennen. Nichts erinnerte an den aufgewühlten, hochgeputschten Patienten unserer ersten Begegnung. Das Gesicht war maskenhaft starr, die Körperhaltung gebeugt, der Kopf hing wie ein schweres Gewicht nach vorne. Seine rechte Hand lag auf dem Knie und schüttelte sich rhythmisch. »Shaking Palsy«, Schüttellähmung, hat der Londoner Arzt James Parkinson 1817 als Erstbeschreiber die später nach ihm benannte Parkinsonkrankheit bezeichnet.
    »Sehen Sie nur, was Sie aus mir gemacht haben. Ich bin ein Wrack, und Sie sind daran schuld«, murmelte Herr Sommerfeld kaum verständlich mit leiser Stimme. »Ich wurde nach Ihren Empfehlungen auf eine viel zu niedrige Dosis von L-Dopa eingestellt, viel zu wenig, ich kann mich kaum bewegen.«
    Das Schütteln seiner rechten Hand nahm infolge der Erregung und inneren Anspannung zu, die Unterlippe seines maskenhaften Gesichts bebte und ein zähflüssiger Speichelfaden begann ihm aus seinem rechten Mundwinkel zu laufen.
    »OK, ich war überdosiert, aber jetzt. Voll im ›Off‹.« Er sagte dies mit einer so leisen Stimme, dass ich mich mit meinem Ohr seinem Mund nähern musste. »Helfen Sie mir. Gefängnis, mein Körper ist ein Gefängnis. Fürchterlich.«
    Ich ließ ihn ein paar Schritte gehen, was kaum gelang. Er schlurfte vornübergebeugt zum Fenster, um dort mitten in der Bewegung zu verharren. Dabei spannte sich die Muskulatur seiner Oberschenkel krampfhaft an. Es hatte den Anschein, als wäre er am Boden festgeklebt.
    »Helfen Sie mir«, murmelte er leise, »helfen Sie mir.«
    Wir nahmen Herrn Sommerfeld in unserer Klinik stationär auf.
    Ein Nachfragen beim Hausarzt ergab, dass der Patient Sommerfeld mit einer hohen Dosis von Anti-Parkinson-Medikamenten behandelt worden war, welche ihm über den Tag verteilt in vier Dosen verordnet worden waren. Direkt nach der Einnahme hatte er sich gut und beweglich gefühlt. Schon kurze Zeit später aber hatte die Wirkung der Medikamente nachgelassen, und er war abrupt steif wie ein Stock geworden. »End of Dose« wird dieses Phänomen bezeichnet, das im Rahmen einer lang andauernden Parkinsonerkrankung auftreten kann. Das L-Dopa wirkt nur noch in der ersten Phase und verliert dann schlagartig seine Wirkung. Die Folge konnte ich anhand des Patienten Sommerfeld plastisch vor mir sehen: Völlige Steifigkeit, fehlende Gesichtsmimik und die Unfähigkeit, spontane Bewegungen auszuführen.
    Ich schlug dem Patienten die Weiterbehandlung mit einer L-Dopa-Pumpe vor. Hierbei wird das Medikament über einen Schlauch mit Hilfe einer Vorrichtung, die wie ein Kassettenrekorder in einem Täschchen getragen wird, kontinuierlich in den Dünndarm gepumpt.
    »Wie kommt der Schlauch in meinen Darm?«, fragte Herr Sommerfeld.
    »Es wird durch einen kleinen chirurgischen Eingriff ein Zugang durch die Bauchdecke geschaffen.«
    Einige Tage später lief der Patient Sommerfeld mit einer L-Dopa-Pumpe über die Station. Das Medikament wurde jetzt regelmäßig, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde, in gleich bleibender Dosierung in seinen Dünndarm gepumpt. Diese Form der Behandlung hatte einen positiven Effekt, der Patient war normal beweglich, selbst das Händezittern war kaum noch zu bemerken. Keine »Offs« mehr, kein »End of Dose«, kein Verharren. Eine Überdosierung, die zu Psychose und Halluzinationen führt, wird durch diese gleichmäßige Anflutung des Medikamentes ebenfalls vermieden.
    Eberhard Sommerfeld wohnte in einer kleinen Wohnung unter dem Dach eines Altstadthauses. Einige Tage nach Implantation der Pumpe ist er
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