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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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von uns in gutem Zustand nach Hause entlassen worden. Am ersten Abend kam er aus dem Bad, um sich im Schlafzimmer in seinem Bett schlafen zu legen. Da bemerkte er auf dem Schlafzimmerschrank einen ihm unbekannten Mann sitzen. Der Mann hatte einen braunen Anzug an, dazu ein weißes Hemd und eine violette Krawatte. Mit ausdruckslosem Gesicht schaute der Mann vom Schrank aus auf Herrn Sommerfeld herunter. Sein dichtes schwarzes Haar war gerade nach hinten gekämmt. Herr Sommerfeld schlussfolgerte, dass es sich bei seinem Besuch auf dem Schrank unmöglich um einen realen Menschen handeln konnte. Wenn es ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen wäre, zum Beispiel ein Einbrecher, dann hätte er ihn eher mit vorgehaltener Pistole und auf der Couch sitzend empfangen, oder er hätte sich hinter irgendeiner Tür versteckt. Aber er wäre wohl eher nicht auf seinen Schlafzimmerschrank geklettert. Also handelte es sich bei dem Mann auf seinem Schlafzimmerschrank um eine Halluzination. Er sagte wie zur Probe: »Hallo, wie geht es Ihnen?« Aber der Mann im braunen Anzug antwortete nicht, sondern schaute ihn weiterhin mit ausdruckslosen Augen an. Herr Sommerfeld setzte sich in seinem gestreiften Schlafanzug auf seine Couch im Wohnzimmer, um einen Zigarillo zu rauchen. Dann nahm er die Pumpe und betätigte den »Aus«-Knopf. Er schaute sich die Spätnachrichten im Zweiten Programm an, stand nach etwa einer Stunde auf und steckte seinen Kopf in das Schlafzimmer. Der Mann auf dem Schrank war verschwunden. Gleichzeitig bemerkte er eine Zunahme des Zitterns seiner rechten Hand, außerdem hatte sich seine Stimmung während der Zeit, in der die Pumpe ausgeschaltet gewesen war, deutlich verschlechtert. Er schaltete die Pumpe wieder an und holte sich noch eine Tüte Erdnüsse, um sie vor dem Fernseher zu knabbern. »Ich bin immer noch überdosiert, nicht viel, nur ein bisschen«, dachte er bei sich. Als er vor dem Schlafengehen noch einmal ins Bad ging, öffnete er den Spiegelschrank und sah die vielen Tablettenschachteln und Medikamentenfläschchen aus der Zeit vor seinem Krankenhausaufenthalt. »Eigentlich hätte ich die schon längst wegwerfen müssen.«
    Bereits am nächsten Morgen wurde Herr Sommerfeld in unserer Notaufnahme aufgenommen. Wie dem Befund zu entnehmen war, war er in einen Erregungszustand geraten und hatte die Einrichtung seines Badezimmers demoliert. Dabei hatte er sich mit den Scherben des Badezimmerspiegels Schnittwunden an seiner rechten Hand und im Gesicht zugefügt.
    Der zuständige Dienstarzt unserer Klinik diagnostizierte eine L-Dopa-Psychose als Folge einer Überdosierung.
    »Die Überdosierung kann nicht von der Menge kommen, die der Patient über die Pumpe bekommt«, referierte er während unserer Konferenz. »Er muss noch Tabletten nebenher eingenommen haben.«
    Als Herr Sommerfeld zum zweiten Mal entlassen wurde, begleitete ihn, mit seinem Einverständnis, ein Sozialarbeiter in seine Wohnung. Seinem Bericht zufolge fanden sich dort große Mengen von Parkinson-Medikamenten, die in unsere Klinik gebracht und von der Apotheke entsorgt wurden.
    In der nächsten Zeit ging es Eberhard Sommerfeld richtig gut. Dank der gleichmäßigen Funktion der Pumpe war er innerlich ganz ruhig, nicht mehr getrieben und auch nicht in seiner Beweglichkeit eingeschränkt. Der Mann im braunen Anzug tauchte nicht mehr auf. Zwar war Herr Sommerfeld noch krankgeschrieben, aber er begann sich Gedanken darüber zu machen, wie seine Zukunft aussehen sollte. In sein Autohaus konnte er natürlich nicht mehr zurück, eine Anzeige wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung stand noch im Raum. Er erwartete täglich seine Vorladung vor Gericht.
    Als er eines Morgens wie immer beim Frühstück in der örtlichen Zeitung blätterte, stieß er auf eine Meldung, die seine Aufmerksamkeit erregte: »Hans-Herrmann Corelli übernimmt Geschäftsführung der Städtischen Verkehrsbetriebe.« An sich war diese Nachricht völlig belanglos, jedoch setzte sich der Name Corelli hartnäckig in seinem Gehirn fest. Er begann Selbstgespräche zu führen: »Corelli, typischer Mafianame, jetzt übernehmen die auch offiziell die Macht in unserer Stadt. Bald wird hier überall die Mafia herrschen, wie in Sizilien. Korruption und Blutrache, ja, das können sie, die Brüder, jetzt wollen sie hier auch noch damit beginnen.«
    Während seiner Einkäufe oder abends beim Fernsehgucken, immer musste er hartnäckig an die Gefahr denken, die von der Mafia ausging.
    Am
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