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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Autoren: Martin Clauß
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Isabel folgte ihm, um einen kurzen Blick in sein Zimmer zu werfen. Ihr Herz pochte aufgeregt. Hätte er sie dazu eingeladen, sein Zimmer zu begutachten, hätte sie abgelehnt. So aber wollte sie wissen, wie es dort aussah. Gab es Anzeichen, dass er sie von da drüben beobachten konnte? Gab es sonstige Hinweise darauf, was er mit ihr vorhatte?
    Nur einen Blick wollte sie, einen kurzen, zufälligen Blick. Ein geistiges Foto, das sie anschließend, wenn sie alleine war, analysieren würde.
    Jürgens Zimmer sah aus wie ihres. Die Möblierung war identisch, wenn auch spiegelverkehrt angeordnet, aber das hatte man oft in Hotels.
    Das Zimmer selbst war geeignet, sie zu beruhigen. Nichts daran war ungewöhnlich oder verräterisch.
    Und doch fuhr ihr bei dem Blick hinein ein Schrecken in die Knochen, dass ihr schwarze Flecken vor den Augen tanzten.
    Jürgen hatte seine Reisetasche aufs Bett gestellt oder geworfen. Er musste es in nachlässiger, unaufmerksamer Weise getan haben, denn sie war herabgerutscht und lag nun auf dem Fußboden, die Seite mit dem offenen Reißverschluss nach rechts. Wieder war der Norwegerpulli zu erkennen, der ein Stück weiter herausgequollen war.
    Aber noch etwas anderes war aus der Tasche gerutscht, ein winziges Stück nur, einige Zentimeter. Etwas Metallisches, Schimmerndes.
    Isabel sah nur einen kleinen Teil davon. Dennoch bestand für sie kein Zweifel, worum es sich handelte.
    Es waren Handschellen, stählerne Handschellen.

4. Im Zimmer
    Wie sie danach in ihr Zimmer gekommen war, wusste sie nicht. Offenbar war es ihr gelungen, ihren Schock zu verbergen, denn Jürgen folgte ihr nicht, rief ihr sogar noch einmal „Gute Nacht“ hinterher. Wahrscheinlich – hoffentlich! – ahnte er nicht, was sie gesehen hatte.
    Isabel stocherte mit dem Schlüssel nach dem Schloss und drehte ihn zweimal um. Probierte zur Sicherheit die Klinke. Die Tür war zu. Den Schlüssel ließ sie quer stecken, damit man von außen mit einem Zweitschlüssel keine Chance haben würde. Wenn sie zu ihr herein wollten, mussten sie schon die Tür einschlagen.
    Oder auf anderem Weg kommen.
    Mit zitternden Händen tastete sie die Wand ab, die sie von Jürgen trennte. Es gab keinen Hinweis auf eine Geheimtür oder ein Guckloch. Auch in der Decke zeichnete sich nichts ab. Als nächstes öffnete sie das Fenster. Es klemmte etwas, war aber nicht verriegelt und ließ sich mit leichtem Rütteln bewegen. Die kühle Nachtluft, die ins Zimmer strömte, beruhigte sie nicht. Die Freiheit schien so nahe, aber vielleicht trog der Schein. Unter dem Fenster lagen Steinplatten. Ein Sprung aus dem ersten Stock war denkbar, aber riskant. Einen Mauerabsatz gab es an der Außenwand nicht. Hinabklettern stand nicht zur Debatte.
    Isabel war kein Mensch, der leicht in Panik verfiel. Bis zu dem Moment, als sie die Handschellen gesehen hatte, war ihr Verdacht nur ein Haufen wirrer Gedanken gewesen. Überspannt, paranoid, irgendetwas. Im Grunde hatte sie selbst nicht recht daran geglaubt. Hatte sich trotz der schaurigen Überlegungen noch wohl gefühlt, ein bisschen wie man sich beim Lesen eines Thrillers fühlte, in dem ein irrer Serienkiller Jagd auf junge Frauen machte. Jetzt war Gewissheit aus ihren Befürchtungen geworden, und in der Gewissheit zu leben, das war eine neue Welt.
    Zu wissen, dass man selbst die Person war, für die diese Handschellen bestimmt waren. Zu wissen, dass der Schrecken und die Schmerzen – und der Tod danach? – auf einen selbst warteten. Das war etwas vollkommen anderes als tausend Krimis und Thriller und Horrorromane.
    Sie interessierte sich für den Tod. Als Gruftie schätzte sie das Morbide, das Traurige und das Jenseitige. Wie die meisten Grufties konnte sie sich gut vorstellen, jung zu sterben. In der Theorie. Aber der Tod, den dieses Haus ihr bringen würde, war ein hässlicher Tod. So wollte sie ihren Tod nicht haben.
    Und sie wollte auch nicht jetzt sterben.
    Isabel lauschte in die Stille hinein. Kein Geräusch außer dem monotonen Brummen aus der Tiefe. Was hatte es damit auf sich?
    Das alles passte nicht zusammen. Handschellen in der offenen Reisetasche. Warum lagen sie nicht hier bereit? Damit Jürgen sie schon unterwegs einsetzen konnte? Hätte er Isabel mit Gewalt ins Hotel Winslow gebracht, wenn sie nicht freiwillig mitgekommen wäre? Der ferne Donner, der in Jürgens Geschichte erwähnt worden war, als übernatürliche Begleiterscheinung von Olga, Anna und Lola – hier im Hotel war er tatsächlich zu hören.
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