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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Autoren: Martin Clauß
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angegangen. Schritte hörte Isabel keine, aber ein Schatten näherte sich der Glastür, hantierte eine Weile mit dem Schlüssel und zog die Tür dann mit mehrmaligem Rütteln auf.
    „‘n Abend, Herr Winslow“, grüßte Jürgen. „Ich bin’s wieder mal. Entschuldigen Sie die späte Störung.“
    „Herr Ottenbach“, krächzte der Mann. „Sie wissen doch, dass ich vor zwei Uhr sowieso nicht einschlafen kann. Ja, kommen Sie schnell rein … Oh, in weiblicher Begleitung heute!“ Der Mann, der sich in seinen Filzpantoffeln vollkommen lautlos bewegte, hatte die Siebzig zweifellos überschritten. Seine gebückte Haltung machte ihn kleiner als er im Grunde war, doch er wirkte noch rüstig. Winslows schmales Gesicht wurde von großen, vorquellenden Augen dominiert, mit denen er glotzte wie ein Vogel Strauß.
    „Eine Anhalterin“, erklärte Jürgen. „Wir brauchen zwei Einzelzimmer für eine Nacht.“
    Der Hotelbesitzer grinste. „Wir haben fünf Einzelzimmer, wie Sie wissen, und sie sind zurzeit alle frei. Es gab also keinen Grund, zurückhaltend zu sein. Sie hätten Anhalterinnen einsammeln können, so viele auf Ihren Rücksitz passen.“
    „Nächstes Mal“, schmunzelte Jürgen.
    Ein Teil der Spannung in Isabel löste sich. Ein anderer Teil blieb präsent. So wie es aussah, war Winslow die einzige Seele hier. Damit hatte sich das Verhältnis Männer zu Frauen auf zwei zu eins verschoben. Und da sollte sie sich sicher fühlen?
    Im Grunde gefiel Isabel das Hotel. Sie hatte etwas übrig für die Schönheit des Verfalls, für das Alte und Schaurige, und der betagte Winslow unterstrich mit seiner Verschmitztheit den schrulligen Charme des Hauses.
    „Warten Sie, ich zeige Ihnen die Zimmer. Verzeihen Sie, Herr Ottenbach, wenn ich Ihnen die Tasche nicht abnehme, aber meine Arthrose …“
    „Schon gut.“
    Kaum hatten sie das Haus betreten, da fiel Isabel ein Geräusch auf. Ein schwaches, dumpfes Rollen oder Brummen, das von tief unten zu kommen schien, aus dem Fundament des Hauses. Oder sogar von einem Ort unter dem Fundament? Es schwoll auf und ab, hatte einen unregelmäßigen Rhythmus.
    Der ferne Donner. Jürgen hatte davon gesprochen.
    Sie berührte die Wand, erwartete, eine Vibration zu spüren, aber natürlich fühlte sie nichts.
    Sie kletterten eine steile Holztreppe empor, und das Brummen wurde leiser und war nur noch wahrzunehmen, wenn man sich darauf konzentrierte. Als sie oben den Flur entlanggingen, bekam Isabel einen Eindruck davon, was Romanschriftsteller meinten, wenn sie das Adjektiv handtuchschmal benutzten. Diese Passage hier war sogar gästehandtuchschmal . Und äußerst schlecht beleuchtet.
    Isabels und Jürgens Zimmer lagen nebeneinander. Gegenüber wäre ihr lieber gewesen. Manche Wände hatten winzige Gucklöcher an Stellen, an denen sie nicht auffielen. Isabels Zimmer war winzig, die Möbel alt und dunkel, der Geruch muffig. Das antike Fenster mit den kleinen Scheiben erinnerte sie an Falkengrund. Betrachtete man den Raum von der Schwelle aus, schien er zu einem Puppenhaus zu gehören. Befand man sich erst einmal im Inneren, entwickelte er jedoch einen unerwarteten Reiz, und seine Enge erzeugte Behaglichkeit.
    „Ab acht Uhr bin ich auf den Beinen“, erklärte der Besitzer an Isabel gewandt. „Falls Sie früher frühstücken wollen – die Küche ist die zweite Tür links, von der Haustür aus gesehen. Bedienen Sie sich einfach. Ach ja, die Toiletten liegen hinten am Ende des Flurs.“ Er kramte in den ausgeleierten Taschen seiner Strickweste, beförderte eine Handvoll schwere alte Schlüssel ans Tageslicht, suchte eine halbe Ewigkeit nach dem richtigen und steckte ihn zur Probe ins Schloss von Isabels Tür. Er passte und bewegte das Schloss mit lautem Knacken. „Das ist ihrer“, meinte er, zog ihn ab und legte ihn auf die Handfläche der jungen Frau.
    „Danke“, lächelte Isabel.
    „Meinen kenne ich schon“, meinte Jürgen und nahm ihn sich aus dem Durcheinander.
    „Sie haben noch gute Augen, Herr Ottenbach. Ich sollte mir schon längst die Augen lasern lassen.“
    Oder Sie drehen einfach stärkere Birnen in die Lampenfassungen , dachte Isabel. Wie wäre das?
    „Wissen Sie“, fuhr der alte Mann fort. „Die Laserstrahlen jagen mir Angst ein. Dieses neumodische Zeug, also, ich weiß nicht … Was mache ich, wenn sich mir die Strahlen bis ins Hirn fressen, hm?“
    Isabel unterdrückte ein Schmunzeln. „Ich glaube, das ist sehr unwahrscheinlich.“
    „Unwahrscheinlich, ja?“
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