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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Autoren: Martin Clauß
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Winslows Miene spannte sich an. „Was wissen Sie schon?“
    Aus heiterem Himmel war seine Freundlichkeit in Aggressivität umgeschlagen. Allerdings ging es vorüber wie ein kurzer Anfall. Zwar entschuldigte er sich nicht, doch die Art, wie er den Blick senkte, ließ erahnen, dass seine kleine Entgleisung nicht persönlich gemeint war.
    „26 Euro für die Nacht“, sagte er in geschäftlichem Ton, vermutlich nur, um sich selbst abzulenken. „Schlafen Sie gut.“
    Isabel fand es unpassend, gleich in ihrem Zimmer zu verschwinden, also wartete sie mit Jürgen auf dem Flur, bis der Alte unten im Erdgeschoss eine Tür hinter sich zuschlug. „Was hat er gemeint?“, fragte sie dann.
    „Seit dem Tod seiner Frau ist er einsam, das ist alles“, behauptete Jürgen. Warum nur klangen seine knappen Worte, als wüsste er mehr, als gäbe es da noch etwas anderes, ein Geheimnis?
    Was wissen Sie schon?
    Nichts wusste sie. Und das wäre halb so schlimm gewesen, wenn Jürgen auch nichts gewusst hätte. Aber Jürgen kam öfters her, kannte Winslow. Auch wenn er Isabel duzte und den Alten siezte, so war er doch vertrauter mit ihm als mit ihr. Viel vertrauter als er tat.
    Guten Tag, Herr Winslow. Guten Tag, Herr Ottenbach. In weiblicher Begleitung heute?
    Und wenn das hier alles geplant war? Wenn die beiden ihr ein perfekt durchinszeniertes Theater vorspielten? Bei einem großen Musikfestival gab es immer ein Mädchen, das nicht wusste, wie es nach Hause kommen sollte. Im strömenden, peitschenden Regen war es einfach, einem davon die Autotür aufzuhalten. Komm, ich bin dein Retter in der Not. Ein bisschen Wärme aus der Heizung, eine Cola, eine Decke, ein wenig Konversation, ein Lächeln hier, ein Lächeln da, und schon kam die Situation ins Rollen. Alle Achsen waren geölt. Die Schienen führten in ein altes, abgelegenes Hotel, in dem zufällig, ganz zufällig nur der Besitzer anwesend war ( Seit seine Frau gestorben ist, schmeißt der Alte den Laden alleine ). Wer wollte schon nachprüfen, ob es Frau Winslow jemals gegeben hatte. Sie hatte nicht alle Zimmer gesehen. Das Haus konnte voll von Männern sein. Im Wald hinter dem Haus gab es genügend Platz, um Autos abzustellen.
    Das einzige, was partout nicht in dieses grauenhafte Bild passen wollte, war die Geschichte, die Jürgen erzählt hatte. Warum lullte er sie nicht mit alltäglichen Belanglosigkeiten ein? Warum mutete er ihr so etwas Verrücktes zu und riskierte, dass ihr die Sache seltsam vorkam?
    Weil er wirklich verrückt war? Weil er glaubte, was er da erzählte?
    Was war schlimmer, einem nüchternen, kaltblütigen Verbrecher in die Hände zu fallen, der sie mit einem gut durchdachten Plan in eine Falle lockte, oder in die Gewalt eines Wahnsinnigen zu geraten, in dessen Weltbild Platz für dämonische Frauen und merkwürdige Wiedergeburten war?
    Zweier Wahnsinniger. Was mache ich, wenn sich mir die Strahlen bis ins Hirn fressen, hm?
    Isabel musste hier raus. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, musste sie das Fenster öffnen, möglichst leise, aber notfalls auch laut und mit Gewalt, wenn es nicht anders ging. Nachdem sie sich bisher so arglos verhalten hatte, rechneten sie bestimmt nicht damit, dass sie so schnell die Flucht ergriff. Bestimmt wähnten sie sich auf Erfolgskurs.
    „Du siehst verwirrt aus.“
    Ihr Kopf ruckte hoch. Jürgen blickte sie fürsorglich an. „Falls du zu Hause jemanden anrufen musst und kein Handy hast, kann ich dir meins leihen. Hier!“ Zentimeter für Zentimeter zog er ein schwarzes Handy aus seiner engen Hosentasche und reichte es ihr. Es war eingeschaltet.
    Die Versuchung, es zu ergreifen und einfach in Falkengrund anzurufen, war groß. Aber etwas, irgendetwas hielt sie davon ab. Wenn er sie von sich aus auf den Gedanken brachte, gehörte es zum Plan. Wie und warum, wusste sie nicht. Aber nachdem sie bereits zweimal seinen Vorschlägen blind gefolgt war wie eine Marionette (sie war in sein Auto gestiegen und in sein Hotel mitgekommen), wollte sie sich kein drittes Mal von ihm lenken lassen.
    Also kein Anruf.
    „Danke. Ich bin nur müde. Es war ein langer Tag.“ Sie gab sich Mühe, erschöpft auszusehen. Träge, passiv. Leichte Beute. Jürgen durfte nicht merken, wie hellwach und alarmiert sie innerlich war.
    „Das verstehe ich“, erwiderte er. „Ich hoffe, du schläfst gut. Die Betten hier sind bequemer als sie aussehen.“
    Er ging mit einem zerstreut wirkenden Lächeln rückwärts die zwei Schritte zu seiner Zimmertür.
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