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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief
Autoren: Susan Abulhawa
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Verzeihung. Du bist mein Fleisch und mein Blut. Du bist Hasans und Dalias Sohn. Yahyas und Basimas Enkel, Vater von
zwei Kindern. Ich möchte mit dem Soldaten sprechen, der immer noch sein Gewehr an meinen Kopf hält. Aber was gibt es schon zu reden? Und würden Worte die immense Bedeutung von Leben und Tod, so nah beieinander, erschüttern?
    Ich schließe die Augen, mein ganzes Leben läuft im Zeitraffer vor mir ab, nimmt Gestalt an. Ich habe mir so viel zuschulden kommen lassen. Ich habe nicht genug geliebt. Ich habe nicht genug geliebt.
    Eine Stimme ruft: »Laaa aaaahh!« Ich weiß, dass es Huda ist. Vor Schreck fallen mir fast die Augen aus dem Kopf, als ich meine Tochter sehe, wie sie herumläuft und sich den Heckenschützen ausliefert.
    Ich vergesse den Soldaten und das Gewehr an meinem Kopf.
    Ich kann fliegen. Ich schwöre es. Ich fliege zu ihr.
    Ich werfe mich auf sie und bin froh, dick zu sein, weil mein Gewicht sie umgestoßen hat.
    Ich bin unglaublich glücklich. Euphorisch, weil die Heckenschützen sie nicht gesehen haben und wir beide auf dem Boden liegen und in Sicherheit sind. Unter der Staubwolke.
    Irgendwo in der Ferne ruft ein Muezzin die Gläubigen zum Gebet. Der Adhan fällt vom Himmel herunter wie ein Strauß trauriger Lilien. »Allahu akbar« hallt er bis in den fauligen Geruch dieser Zerstörung hinein. In seinem Echo kann ich den unterdrückten Gesang des Orients hören. Ich blicke in die Augen meiner zu Tode erschrockenen Tochter, die unter mir liegt, und ein Gefühl der Wärme überkommt mich. Ich bin außer mir vor Liebe zu meiner Tochter. Mein kostbares, kleines Mädchen.
    Sara.
    Das schönste Lied meines Lebens.
    Mein Zuhause.

    Ich bin zu erschöpft, um mich zu bewegen. Ich flüstere ihr zu: »Ich liebe dich.«
    Ich träume davon, alt zu werden beim fröhlichen Getrippel von Majids und meinen Enkelkindern, die sie eines Tages zur Welt bringen könnte.

TEIL 8
Nihaya wa Bidaya
    Ein Ende und ein Anfang

45
Für unsere Töchter
    2002
    A mal wurde erschossen.
    In dem Moment, als sie ihren Körper verließ und ihre Augen erloschen, starb Amal, ohne das Nahen des Todes zu spüren. Sie starb mit dem Gefühl der Freude, ihre Tochter gerettet zu haben, zufrieden und voller Liebe. Sie starb in einem Flüstern, als wäre der Tod beschämt über ihr verwundetes Herz, als wollte er diesen besonderen Moment nicht durch seine Anwesenheit stören. Es war, als hätte der Tod ihr ein Schlaflied gesungen.
    Saras zwanzigjähriges Leben schien nur auf diesen Augenblick zugesteuert zu haben. Jede einzelne Minute dieses Lebens durchwühlte sie nach einer Antwort, nach einer Erklärung, nach der Kraft, mit der sie weiterleben konnte, trotz der Erinnerung. Oder nach der Kraft, die Erinnerung auszublenden.
    Der gleichgültige Nebel dieses Tages.
    Der höllische Durst.
    Der apokalyptische Staub, der wie Algen durch die Luft schwebte.

    Sara wusste nicht, warum ihre Mutter an diesem Tag hinausgegangen war. War da wirklich ein Krankenwagen des Roten Halbmonds gewesen?
    Saras Augen waren gerade erst aus einem Traum erwacht, als sie durch die Tür trat, um zu ihrer Mutter zu gelangen. Sie hatte von dem Geigenvorspiel geträumt, das kurz vor ihrem zehnten Geburtstag stattgefunden hatte. Sie hatte ins Publikum geschaut und das Gesicht ihrer Mutter entdeckt, umflort von einem Nebel aus Stolz. Weißt du noch, Mom?
    In ihrem Traum spielte sie für nur zwei Menschen: Amal und Majid. Sie spendeten tosenden Applaus, der das Theater ihrer Träume erfüllte. Majids Gesicht war ihres. Sara hatte ihr ganzes Leben lang versucht, seine Gesichtszüge in ihrem Spiegelbild zu entdecken. »Du siehst ihm so ähnlich«, hatte Amal einmal zu ihrer Tochter gesagt. Weißt du noch, als du mir das gesagt hast, Mommy? Ich weiß es noch. Ich war fünf.
    In ihrem Traum verbeugte sie sich vor den beiden. Plötzlich waren auch ihre Großeltern Dalia und Hasan, ihr Onkel Yussuf, Fatima, Cousine Filastin, Urgroßvater Yahya und Urgroßmutter Basima da gewesen. Ein Hod, Großonkel Darwishs Pferde – und all die Gesichter und Geschichten, die Saras und Amals Zeit in Jenin geprägt hatten. Ihre Vorfahren schlossen sich dem Applaus an und klatschten für sie, für die Frucht, die aus ihren Samen hervorgegangen war. Das Auditorium bebte unter ihrem Beifall, und die fruchtbare Landschaft von Ein Hod glitt in den Hintergrund. Das Klatschen wuchs zu einem Donnern an – war das die Ambulanz des Roten Halbmonds? – und erschütterte ihren Traum. Sie sah
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