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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief
Autoren: Susan Abulhawa
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die Silhouette ihrer Mutter, die draußen stand. Die Wirklichkeit kam näher. Sie trat von der Bühne, auf Amal und Majid zu, dessen Gesicht nicht mehr ihrem eigenen glich, sondern dem eines israelischen Soldaten. Sie ging auf ihre Mutter zu, schwankend wie
in einem Wachtraum, gefangen zwischen der lustlosen Vornehmheit des Geigenvorspiels und der erschreckenden Verwüstung von Jenin.
    Dann kam der Schrei, und sie war hellwach. Über ihr lastete das Gewicht ihrer Mutter.
    Du bist die schönste aller Mütter.
    Sara wird die letzten Minuten im Leben ihrer Mutter niemals vergessen. Es sind mindestens zehn Minuten, vielleicht eine Stunde – eine Ewigkeit, die doch zu kurz ist. Dieser Augenblick läuft immer wieder in ihrem Kopf ab. Und sie erzählt davon in Briefen an ihre Mutter, die sie mit der ganzen Welt teilt, auf einer Website im Internet:
    Dein Gesicht schaut auf mich herab. Die Worte »Ich liebe Dich« bilden sich auf Deinen halb geöffneten Lippen, die vom Durst ausgetrocknet sind. Aber kein Laut entweicht ihnen. Ich möchte Dir sagen, dass ich mich daran erinnere, wie Du nachts in mein Zimmer kamst und mich umarmtest, als Du dachtest, ich schliefe. Ich weiß, dass Du mich geliebt hast, das möchte ich Dir sagen. Dein Atem war voller Liebe und voller Kummer. Das möchte ich Dir sagen, aber ich habe schreckliche Angst. Jetzt weiß ich ganz sicher, dass Du mich mehr geliebt hast als Dein Leben. Ich frage mich, was gerade in Dir vorgeht. Ich brauche Deine Vergebung. Ich brauche Dich, und ich flehe Gott an, Dich nicht zu holen. Nicht jetzt. Nicht so.
    Die Kugel des Schützen, die für Sara gedacht war, bohrte sich in Amals Fleisch. Die Eingeweide ihres Lebens sammelten sich in einer Pfütze aus warmem Braun, das in Zukunft jeden einzelnen von Saras Träumen einfärben sollte. Bis die Belagerung eine Woche später endete, blieb Sara mit dem Blut ihrer Mutter überzogen. Der Soldat, der sein Gewehr auf Amal gerichtet hatte, holte Sara aus den leblosen Armen ihrer Mutter.
Sie wehrte sich gegen ihn, weil sie nicht von dort wegwollte. Sie forderte ihn auf, auch sie zu erschießen. Sie merkte, wie schockiert er war, dass sie Englisch sprach. Während der Soldat Sara zurück zu Hudas Haus schleifte, stammelte er in gebrochenem Englisch, er könne »nicht mehr schießen«.
    Der Soldat gab Sara und Huda seine Thermosflasche mit Wasser. Zwei Tage später brachte er ihnen eine neue und erklärte ihnen, wo sie die Leiche »der Frau« finden konnten, wenn das Lager wieder »geöffnet wurde«. Er hatte Amals Leichnam hinter einem entwurzelten Olivenbäumchen versteckt. Er brachte ihnen Nahrung und genug zu trinken für die Zeit der Belagerung, aber nicht genug, um das Blut einer Mutter von der Haut ihrer Tochter abzuwaschen.
    Als der Belagerungszustand aufgehoben wurde, schwärmten Reporter ins Lager. Dann kamen Lebensmittel und Wasser, und die Überlebenden begannen die Suche nach den Toten, nach ihren Besitztümern, nach den Testamenten. Schulbücher, einzelne Schuhe, Haushaltsgegenstände – die Zeugnisse des Lebens, verstreut in zerstörten Heimen. Haj Salim hatte nicht überlebt. Flüchtende Nachbarn hatten versucht, ihn aus seinem Haus zu retten, aber der heranrasende Bulldozer hielt nicht an, und seine enorme Kraft vernichtete das Haus des alten Mannes, während er sich noch darin aufhielt. Als sie das erfuhr, weinte Sara und schrieb an ihre verstorbene Mutter:
    Weißt Du, Mutter, dass Haj Salim lebendig in seinem Haus begraben wurde? Erzählt er Dir seine Geschichten jetzt im Himmel? Ich wünschte, ich könnte ihn kennenlernen. Sein zahnloses Lächeln sehen und seine ledrige Haut berühren. Ich wünschte, ich könnte ihn um eine Geschichte aus unserem Palästina bitten, so wie Du es gemacht hast, als Du jung warst. Er wurde über hundert Jahre alt,
Mutter. Er hat so lang gelebt, um dann von einem Bulldozer zerquetscht zu werden. Ist das gemeint, wenn man davon spricht, ein Palästinenser zu sein?
    Der Blumenmonat April hält Sara auf ewig in den Armen ihrer Mutter. Es war der Monat, in dem Mutter und Tochter sich neu ineinander verliebten. Der Monat, in dem sie lange aufblieben und miteinander sprachen, während draußen, außerhalb der schützenden Mauern, der Wahnsinn tobte. Es war der Monat, in dem Amal endlich ihr Zuhause fand – in den Augen ihrer Tochter. Auf ihrer Website, www.aprilblossoms.com , schrieb Sara ihre Erinnerungen an diesen Monat nieder, von dem alles kommt und zu dem alles zurückkehrt. Der Monat,
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