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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief
Autoren: Susan Abulhawa
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aus dem Saras Liebe und ihr Hass entsprangen.
    Sara wird nach Pennsylvania zurückreisen. Das steht fest, denn sie hat schon zu viel geschrieben, und ihr Name befindet sich auf einer israelischen Liste von »Sicherheitsrisiken«. Es gibt keinen Ort, an dem sie sich verstecken kann in diesem Land, in dem sogar Schatten entwurzelt werden. Doch Saras Herz wird Jenin niemals verlassen.
    Huda irrte wie betäubt durch das Lager. Der Ort, an dem sie geboren wurde, an dem sie misshandelt und terrorisiert, geliebt und geehrt wurde, war wieder einmal zerstört worden. Die Überreste menschlichen Lebens steckten zwischen Schutthaufen. Huda streifte umher, auf der Suche nach Dingen, die noch zu gebrauchen waren. Der Bademantel einer Frau hing noch immer an seinem Haken an der Badezimmerwand, die mitten in den Trümmern stand. Es war der Bademantel ihrer Freundin und Nachbarin. Das war ein lohnenswerter Fund. Aber sie ließ ihn hängen. Eine menschliche Hand, von der nur die Finger zu sehen waren, ragte aus dem Boden. Jemand war lebendig begraben worden. Vorsichtig
ging sie um die Hand herum, während sie für die Seele dieses Menschen eine Fatiha sprach. Der Schuh eines kleinen Mädchens. Überall Schulbücher, zerfetzt und mit Kettenabdrücken der Panzer. Eine Puppe. Sie hob sie auf. Sie hatte nur einen Arm. Huda setzte sich langsam auf den Boden, während sie die einarmige Puppe in der Hand hielt. Sie betrachtete sie, lange und gründlich. Sie spürte den Strudel der Zeit in ihrem Herzen und sah sich selbst als kleines Mädchen. Bei diesem Anblick lächelte sie, wenn auch traurig. Sie streichelte den Kopf der Puppe, und als sie das verfilzte Haar berührte, kamen ihr die Tränen. Sie weinte, leise wimmernd, so wie ein Herz klingt, das immer wieder von Neuem bricht. Huda schloss die Augen und betete: Oh, Allah, hilf uns alle, dieses Leben auszuhalten.
    Erst bei der Beerdigung schrie Huda. Sie klagte herzzerreißend am Leichnam ihrer Freundin aus Kindertagen. Es war der einzige Leichnam, den sie begraben konnte. Jamil wurde nie gefunden. Sie wusste, wie Mütter eben wissen, dass ihr Sohn getötet werden würde. Aber welches Mutterherz kann sich schon auf so etwas vorbereiten? Sie weinte, und ihr Urschrei reiste durch den Äther. Ihr Gesicht wurde von Liebe und Tod zerfurcht und verzerrt. Huda bohrte die Finger in die Erde auf den Gräbern und knetete darin herum, als wäre die Erde das Schicksal, das sie neu formen konnte. Sie nahm eine Handvoll und warf sie über sich in die Luft. Da saß sie, weinend und mit Dreck beschmutzt.
    David war auch anwesend. Still stand er neben Huda vor der Reihe der sieben Gräber. Sie kannten sich gut, denn Huda war es gewesen, die David die Namen gesagt und die Gerüchte weitergegeben hatte, als er gekommen war, um nach seiner Familie zu suchen. Aber jetzt redeten sie nicht. Niemand sprach.

    Die wenigen in Jenin verbliebenen Männer hoben die Gräber aus. Kinder schauten neugierig zu, als die in Leichentücher gehüllten Toten in die Erde gelegt wurden. Frauen nahmen Erde von den Gräbern und schmierten sie sich ins Gesicht. Sie trauerten mit dem traditionellen Geträller, doch die Welt bekam nichts davon mit.
    David weinte stumm. Er stand vor dem Leichnam seiner Schwester. Er war gefangen in der Qual der Nüchternheit und sehnte sich nach Alkohol. Kein Laut kam ihm über die Lippen, doch sein Kummer lag stark und schwer über den Gräbern, wie Regen, der nicht fallen darf. Seine Tränen wallten in einer Einsamkeit, die er weder ertränken noch erschüttern, ja nicht einmal berühren konnte.
    Ari stand nicht. Gramgebeugt hing er über Amals Grab und sprach leise mit ihr. »Nimm dies hier«, flüsterte er. »Ich verdanke mein Leben deinem Vater. Sag ihm, ich hatte nie einen besseren Freund als ihn.« Sara sah, wie Ari die Brosche mit den achtzehn Perlen auf ihre in einem Tuch eingehüllte Mutter fallen ließ.
    Mrs. Perlsteins Brosche wurde mit dir beerdigt, Mutter.
    Während die Stunden vergingen, legte sich Erschöpfung und Durst über sie, und das klagende Heulen wich einem traurigen Schweigen. Ari humpelte zur Gruppe der Trauernden und rezitierte das muslimische Totengebet. Das Gesicht in den Händen verborgen, sprachen sie die Fatiha.
    »Dein Großvater hat mir gezeigt, wie man betet«, erzählte Ari später Sara.
    »Ich wünschte, ich hätte ihn kennengelernt«, erwiderte sie.
    »Ich erzähle dir alles, was ich noch weiß. Ich kannte deinen Großvater schon, als er noch ein kleiner Junge
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