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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich
Autoren: Oliver Bellamy
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Prolog
    Die Nacht liegt bereits über der Stadt, als sie in Ferrara eintrifft. Ein Wagen hat sie am Flughafen von Venedig abgeholt, und
obwohl es spät ist, will sie ein wenig Luft schnappen, einen
Espresso in einer einsamen Kaffeebar trinken, sich die Beine vertreten. Diese Angewohnheit hat ihren Exmann, den Dirigenten Charles Dutoit, verrückt gemacht. Mit einem Lachen pflegte sie ihm dann zu entgegnen: »Ihr Schweizer, ihr habt eure Uhren. Wir Argentinier, wir haben Zeit.«
    Die Pianistin bittet darum, dass man ihr die Pforten des Theaters öffnet, damit sie den Steinway ausprobieren kann. So etwas wirkt kompliziert, extravagant. Aber sie kann erst arbeiten, wenn alle Welt schläft, wenn die Uhren stillstehen und das Unsichtbare sichtbar wird. Wie sagte einer ihrer Bewunderer: »Über ihrem Reich geht die Sonne niemals auf.«
    Das kleine, sehr italienische Theater von Ferrara ist menschenleer. Die jungen Musiker des Mahler Chamber Orchestra sind bestimmt beim Abendessen in einem der Restaurants der Stadt. Sie ist zu spät für den Empfang gekommen. Morgen Abend, am 20. Februar 2004, werden sie gemeinsam mit dem Klavierkonzert Nr. 3 von Beethoven auftreten, das sie erst ein einziges Mal vor Publikum gespielt hat. Keine gute Erinnerung. Gott allein weiß, wie Claudio Abbado es geschafft hat, sie zu dem morgigen Auftritt zu überreden. Aber sie vertraut ihm: Seit so langer Zeit machen sie zusammen Musik – fünfzig Jahre sind es mittlerweile, eine Ewigkeit! »Das ist nichts für mich«, hatte sie zuerst sehr bestimmt gesagt. Bis die Lust, das Wagnis auf sich zu nehmen, irgendwann größer war als ihre Zweifel. Sie beginnt die ersten Noten zu spielen und schneidet eine Grimasse. Es ist, als würde sie eine fremde Sprache sprechen. Das Klavier verweigert die Zusammenarbeit. Sie stürzt einen Schluck heißen Kaffee hinunter. Die Nacht wird lang werden.
    Düstere Gedanken überfallen sie. Die Geschichte des mittelalterlichen Klosters von Ferrara kann, wie sie weiß, mit der der mythenumwobenen Burg von Mykene durchaus mithalten: Eine Frau wurde enthauptet, weil sie den Sohn ihres Ehemannes begehrte; ein Prinz ließ seinen Bruder blenden, weil seine Geliebte die Schönheit von dessen Augen pries; ein König vergiftete sein Weib, weil er es eines Komplotts verdächtigte, und ließ seinem ruhmsüchtigen Neffen den Kopf abschlagen. Sie hat den Geschmack von Blut auf der Zunge, und Angst schnürt ihr die Kehle zu.
    Am nächsten Tag krümmt sich die Pianistin vor Schmerzen in ihrer Garderobe. »Ich kann nicht«, stöhnt sie. Das Publikum ist bereits im Zuschauersaal. Es wartet. Seit Wochen freuen sich die Leute auf das Konzert. Unruhe breitet sich in den Rängen aus. Wird sie spielen? Ihre Absagen in letzter Minute sind legendär. Ihr unbeständiger Charakter ist Teil ihrer Künstlerpersönlichkeit, sagen die Journalisten. Die Mikrofone der Deutschen Grammophon recken sich von überall her in Richtung Bühne, als wollten sie sich über ihre Ängste lustig machen. Die Aufnahme einer Live- CD wird von der Musikpresse bereits als »historisch« angekündigt. Auf den Gesichtern derer, die sich in der Nähe ihrer Garderobe aufhalten, malt sich Besorgnis ab, der Schweiß steht ihnen auf der Stirn. Maestro Abbado klopft an ihre Tür. Seit seiner Krebserkrankung ist sein Körper zart und durchscheinend, aber das Leuchten in seinen Augen erinnert die Pianistin daran, dass die Musik ihm einst das Leben rettete. Mit seiner sanften, klaren Stimme beruhigt er seine Partnerin.
»Wovor hast du Angst, Marthita? Wir werden nichts anderes tun, als schöne Musik zusammen machen!« Als sie ihn so sieht in seiner Zerbrechlichkeit und Leidenschaft, vergisst sie ihre Angst, und ihre Hände hören auf zu zittern. Sie folgt ihm – wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln im Märchen der Brüder Grimm.
    Nach dem Konzert ergießt sich die Begeisterung des Publikums in einen zwanzigminütigen Applaus. Die Fans drängen sich um den Künstlereingang. »Sie ist die Größte«, flüstert ein junger Mann ergriffen.
    Zwei Tage später, als sie den Konzertmitschnitt hört, verzieht die Pianistin das Gesicht. »Zu perfekt«, murmelt sie. Sie schüttelt ihre Mähne in einem Anflug von Fatalismus. Es ist Zeit, sich neuen Dingen zu widmen.

Buenos Aires
Kindergarten
    In der Welt der klassischen Musik ist sie Martha, ganz einfach, und jeder weiß, um wen es sich handelt. Man ruft sie bloß bei ihrem Vornamen, wie man es bei Göttinnen tut, bei Kindern, Heiligen
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