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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich
Autoren: Oliver Bellamy
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wie angewurzelt im Türrahmen stehen bleibt. »Wer hat dir das beigebracht?« – »Niemand«, erwidert Martha, die innerlich jubiliert. »Spiel bitte weiter!« Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, tut das Kind, wie ihm geheißen. Keine falsche Note, kein Rhythmusfehler, kein Stocken. Die Erzieherin hat noch nie mit einem hochbegabten Kind zu tun gehabt, aber sie besitzt genug Erfahrung, um die unbestreitbaren Anzeichen eines solch außergewöhnlichen Talents zu erkennen. Die kleine Argerich ist ihr schon immer als sehr lebhaft aufgefallen, aber das jetzt ist etwas anderes.
    »Papito« und »Mamita« nehmen die Neuigkeit hin, ohne dass es ihnen gleich zu Kopf steigt. Juan Manuel kauft ein Kinderklavier für seine Tochter, ein Spielzeuginstrument, das über eineinhalb Oktaven geht. Wütend über diese Missachtung, obwohl sie ihr Können doch so nachdrücklich unter Beweis gestellt hat, wirft Martha das kleine Möchtegernklavier zu Boden. Statt sie zu maßregeln, weiß ihr Vater ihr Aufbegehren zu deuten, und nach ein paar Wochen steht ein größeres Instrument in der Wohnung. Bis es zu einem richtigen Pianino reicht, dauert es noch ein paar Monate. Im Moment ist in der Wohnung einfach nicht genug Platz, und außerdem muss gespart werden. Juanita, die schon immer eine gewisse Leidenschaft für die Musik hatte, ohne dass sie jemals selbst Unterricht nehmen konnte, wagt es, auf dem Instrument ein wenig herumzuklimpern. Aber das kleine Fräulein Mozart hindert sie mit einer solchen Entschiedenheit daran, dass sie es nicht noch einmal pro-
biert.
    Das Klavier wird neben Marthas Bett aufgestellt. Ihre Finger meistern jede Schwierigkeit, und ihr Ohr hört alles. Tyrano ist nicht im Geringsten erstaunt. Dass seine Tochter ein Genie ist, daran hat er nie gezweifelt. Dass dies nun in der Musik seinen Ausdruck findet, gefällt ihm durchaus. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Marthitas außerordentliches Talent sich auf natürlichem Wege entwickeln lassen, aber Juanita ist da ganz und gar nicht seiner Auffassung und macht sich sofort auf die Suche nach einem geeigneten Klavierlehrer. Man empfiehlt ihr eine gewisse Ernesta Kussroff, eine Pianistin katalanischen Ursprungs, die in Buenos Aires eine Begabtenschule gegründet hat und die man unter heutigen Gesichtspunkten als »PR-Genie« bezeichnen würde. Sie versteht es, sich und ihre Methoden auf allen wichtigen internationalen Konferenzen vorzustellen, was ihre Kollegen vor Neid erblassen lässt.
    Martha hat keine guten Erinnerungen an ihre ersten Unterrichtsjahre. Señora Kussroff ließ ihre Schüler nach Gehör spielen, ohne Noten. »Zwei Jahre war ich in ihrer Klasse. Ich habe Todesängste ausgestanden. Kein Wort habe ich rausgebracht, meine Nase lief, ich wagte nicht, mich zu rühren«, erinnert sie sich. Die Methode der findigen Lehrerin bestand darin, ihren Schülern Tiergeschichten zu erzählen, um den Solfeggio-Unterricht* aufzulockern und die Kinder nicht durch komplizierte Regeln zu verschrecken. Bei öffentlichen Vorspielen verwendete sie dasselbe Prinzip, damit ihre Schützlinge das Gefühl hatten, es handele sich bloß um ein Spiel und nicht um eine lästige Prüfung, im Laufe derer man unerbittlich über ihr Können befinden würde. Ihre eher banalen Fabeln hinterließen bei Martha, die an die viel komplexeren Geschichten ihres Vaters gewöhnt war, jedoch keinen bleibenden Eindruck. Am Tag des Jahresabschlusskonzerts – es war ihr ziemlich egal, welches Ende das Zicklein nehmen würde, das es mithilfe magischer Melodien aus den Fängen des bösen Wolfes zu entreißen galt – rannte Martha hinter die Bühne, um sich nicht ans Klavier setzen zu müssen. Sie musste regelrecht zu dem Instrument hingeschoben und auf den Klavierschemel gedrückt werden. Bevor sie Chopins Walzer Op. 64 Nr. 1 (auch Minutenwalzer oder Kleiner Hund genannt) und Mozarts C-Dur-Sonate Nr. 16 ( Sonata facile KV 545 ) endlich zu spielen begann, vollzog sie zunächst ein kurioses stummes Ritual. Señora Kussroff hatte ihren Schülern eingetrichtert, vor dem Spielen eine wellenförmige Bewegung mit den Armen auszuführen, die »dem kleinen Delfin dabei hilft, seine Mama wiederzufinden«. Diese Wellenbewegung war recht hübsch anzusehen und hatte überdies den angenehmen Nebeneffekt, dass das Publikum wie bei einer geheimnisvollen Beschwörung, die einem Zaubertrick vorangeht, schon einmal positiv eingestimmt wurde. Ausnahmsweise hatte auch Martha Gefallen an dieser Geste gefunden. Und
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