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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich
Autoren: Oliver Bellamy
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echte Re-
spektsperson, die maßgeblich für das damalige Klavierfieber der Argentinier verantwortlich ist: Vincenzo Scaramuzza.

Calle Lavalle
Erste Schritte einer Virtuosin
    Wenn man die ehemaligen Schüler dieser Klavierlegende befragt, tritt ein Leuchten in ihre Augen, in dem sich sowohl Re-
spekt als auch Furcht widerspiegeln. Vincenzo Scaramuzza war ein brillanter Lehrer, aber sein Unterricht kam einem Terror-
regime gleich. »Meine Mutter war Zeugin, wie er einmal einem Jungen zwanzig Stockhiebe verpasste«, erzählt der Pianist Bruno Leonardo Gelber, der Scaramuzzas Willkür bis zum Alter von siebzehn Jahren ausgeliefert war. Damals wurden Lehrer für gewaltsame Übergriffe auf ihre Schüler noch keineswegs belangt.
    Martha Argerich, die im Alter von fünfeinhalb bis elf Jahren seinen Unterricht genoss, erinnert sich an einen seiner berühmten Aussprüche: »Schüler sind wie Degen. Manche brechen, sobald man sie biegen will, andere passen sich an, bis sie ihre eigentliche Form gefunden haben.« Angeblich bevorzugte Scaramuzza die Exemplare der ersten Gattung. Martha, die stolz darauf war, zur zweiten zu gehören, hat diese Definition jedenfalls immer als Kompliment begriffen.
    Jener Menschenfresserpianist erblickte 1885 in Crotone, im Absatz des italienischen Stiefels, das Licht der Welt. Als jüngster von vier Brüdern hatte Vincenzo Scaramuzza zunächst bei seinem Vater Klavierunterricht, bis er nach Neapel ans Konservatorium San Pietro a Majella kam. Die Stadt der Kastraten, des Belcanto, von Porpora und Pergolesi nimmt auch im Hinblick auf die Kunst des Klavierspiels einen hohen Rang ein. Paolo Denza (Lehrer von Aldo Ciccolini) war ein Schüler Busonis, jenes pianistischen Giganten, der den ganzen Liszt in zwölf Konzerten geben konnte! Sigismund Thalberg* (der große Rivale von Liszt in Paris) ließ sich ebenfalls in Neapel nieder, wo er eine Schule gründete und eine viel beachtete Kunst des Belcanto für Klavier schrieb.
    * Thalbergs bedeutendster Schüler war Beniamino Cesi, der auf Bitten Anton Rubinsteins, des Begründers der großen russischen Klavierschule, zunächst am Konservatorium von Sankt Petersburg unterrichtete. Von einer Lähmung befallen, kehrte er nach Neapel zurück, wo zu seinen wichtigsten Schülern die folgenden Pianisten zählten: Alessandro Longo (bekannt für seine Nummerierung der über fünfhundert Scarlatti-Sonaten), Giuseppe Martucci (ein von Toscanini verehrter Komponist und Wagner-Dirigent, der bei der ersten italienischen Tristan-und-Isolde -Aufführung am Pult stand) und Florestano Rossomondi. Als Vincenzo Scaramuzza am Konservatorium von Neapel war, wurde dieses von Martucci geleitet, während Longo und Rossomondi dort unterrichteten.
    Scaramuzza begann seine Virtuosenkarriere mit einundzwanzig Jahren und gab Konzerte in Palermo, Rom, Florenz, Parma, Genua. Weil er große Probleme damit hatte, sein Lampenfieber zu beherrschen, bewarb er sich auch um eine Klavierdozentur. Zu seiner unendlichen Enttäuschung stand er jedoch nur an zweiter Stelle hinter Giovanni Sgambati (der das »Klagelied« von Glucks Orpheus für Klavier transkribierte, eine beliebte Zugabe vieler Pianisten). Eine Assistentenstelle kam für ihn nicht in Frage, also bestieg er 1907 das Schiff nach Buenos Aires. Ohne auf weitere Auftritte zu verzichten, begann er zu unterrichten, wobei er sehr schnell seine Leidenschaft dafür entdeckte. Nach einigen Jahren der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Abhängigkeitsverhältnis von Virtuosität und detaillierter Kenntnis der menschlichen Anatomie eröffnete er 1912 die
»Musikakademie Scaramuzza« in Buenos Aires. Innerhalb eines halben Jahrhunderts sollte er dort vier Generationen von Pianisten ausbilden, darunter vierzig wahrhaft bedeutende. Enrique Barenboim, der zu Letzteren zu zählen wäre, übertrug seine Kunst auf seinen Sohn Daniel Barenboim. »Das war, denke ich, ein Stil, der dem Klavierspiel die größtmögliche Natürlichkeit zugestand – man saß weder zu hoch noch zu tief – und der das Mentale perfekt mit dem Physischen in Einklang brachte. Martha ist das beste Beispiel dafür«, versichert der herausragende Pianist und Dirigent.
    Vincenzo Scaramuzza nahm aus Prinzip keine Wunderkinder in seine Klasse auf. Seine Schwester Antonietta bildete die jüngeren Schüler nach seiner Methode bis zum Alter von zwölf Jahren aus, erst dann übernahm Scaramuzza sie. Bei Martha Argerich und Bruno Leonardo Gelber machte er eine Ausnahme, sie durften
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