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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich
Autoren: Oliver Bellamy
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bereits mit fünf Jahren in seinen Unterricht kommen. Ihre Klavierstunden folgten direkt aufeinander. Wenn sie sich an der Tür begegneten, pflegte derjenige, der seine Stunde gerade hinter sich hatte, dem anderen durch seine Mimik zu bedeuten,
ob der Maestro an dem Tag eher gute oder schlechte Laune hatte. Scaramuzza konnte sehr gemein sein. Wenn Gelber sich bei ihm über eine besonders knifflige Technik beschwerte, erwiderte er: »Ach, sieh mal einer an! Martha hatte damit überhaupt keine Probleme …« Und Martha gegenüber behauptete er: »Du hast eine gute Technik, aber Gelber, der hat Herz!« Oder: »Du kommst aber gar nicht vorwärts! Bruno ist dir schon zwanzig Kilometer voraus.«
    Martha ging zwei- bis dreimal pro Woche zu Scaramuzza in die Calle Lavalle im Zentrum von Buenos Aires. Der Flur im Eingangsbereich war tagsüber wie abends von wartenden Schülern bevölkert. Sobald der Meister erschien, hörte das Geschnatter schlagartig auf, und alle erhoben sich. Juanita begleitete ihre Tochter jedes Mal. Mit ihrer allerbesten Schönschrift notierte sie jedes Wort des Maestro in eine kleine Kladde. Scaramuzza hatte großen Respekt vor ihr. Eines Tages sagte er: »Señora Argerich, Sie könnten meine Assistentin werden!« Er freute sich daran, dass ihr Mädchenname der gleiche war wie der des ungarischen Pianisten Stephen Heller, eines Freundes von Liszt und
Chopin sowie Verfassers bedeutender Klavieretüden. In musikalischen Dingen vollkommen unbeschlagen, entwickelte sich Juanita aufgrund ihrer Willenskraft und Intelligenz bald zu einer regelrechten Expertin. Sie hätte auch Einstein bei seinen Studien zur Relativitätstheorie geholfen, wäre ihr Sohn Physikstudent gewesen. Scaramuzza widmete ihr als Zeichen seiner besonderen Wertschätzung eines seiner wertvollen Notizhefte mit den Worten »Für meine kluge Mitarbeiterin«.
    Die Einsicht in jene Unterlagen gestattet uns Rückschlüsse auf das Repertoire, das Martha sich innerhalb eines Jahres erarbeitet hatte. Nicht nur der Schwierigkeitsgrad der Werke ist für ein so junges Kind geradezu phänomenal, sondern auch der Umfang des Repertoires, der weit über dem Durchschnitt an einem Konservatorium lag. Hier ein paar Beispiele, die aus dem Jahr 1950 stammen (Martha ist neun Jahre alt): die Klaviersonate Nr. 18 Es-Dur von Beethoven, ein Bach-Präludium, die Stücke »Jeux d’eau à la villa d’Este« und »Au bord d’une source« aus Liszts Années de pèlerinage , die Klaviersonate Nr. 7 D-Dur von Beethoven, eine Gigue von Bach, die Kinderszenen von Schumann, ein Impromptu von Schubert, die Mazurka op. 17 Nr. 4 von Chopin, eine der Englischen Suiten von Bach und das Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll von Mozart (mehrere Stunden waren hier allein den aus der Feder Beethovens stammenden Kadenzen gewidmet). Im Jahr darauf folgten: die Waldsteinsonate von Beethoven, eine der Französischen Suiten von Bach, einige Chopin-Etüden …
    Scaramuzza verordnete seinen Schülern niemals reine Technikübungen. Er war der Überzeugung, die klassischen Werke seien ausreichend mit Tonleitern, Akkordfolgen und sonstigen technischen Schwierigkeiten ausgestattet. In einer Mozart-
Sonate oder Chopin-Etüde seien diese technischen Herausforderungen nie vom Ganzen abzukoppeln. Im Gegenteil, das Trainieren von reiner Technik könne dazu führen, dass sich diese eher verschlechtere, meinte der Maestro, einmal ganz davon abgesehen, dass die musikalische Seite dessen, was man mechanisch vor sich hin spiele, schnell verloren gehe. Für Scaramuzza musste selbst die einfachste Tonleiter ausdrucksvoll sein, und das war seiner Meinung nach nur im Rahmen eines Werkes von Beethoven möglich und nicht in einer Etüdensammlung von Czerny oder Hanon*.
    * Carl Czerny (1791–1857) war ein österreichischer Pianist, Komponist und Klavierpädagoge. Selbst Schüler von Beethoven, unterrichtete er den jungen Liszt. Seine umfangreichen Etüdensammlungen und Übungshefte werden bis heute im Klavierunterricht verwendet, während seine über achthundert sonstigen Kompositionen in Vergessenheit geraten sind. Charles-Louis Hanon (1819–1900) war ein französischer Pianist und Klavierpädagoge. Er ist nach Czerny der berühmteste Etüdenkomponist. Sein Klaviervirtuose war ein ganzes Jahrhundert lang weltweit die Bibel an den Konservatorien.
    Scaramuzzas Unterrichtsmethode fußte auf einer absoluten Kenntnis des Kosmos Klavier und einer ebenso großen Kenntnis des menschlichen Körpers. Um sich seinen
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