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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich
Autoren: Oliver Bellamy
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Schülern begreiflich zu machen, fertigte er sogar anatomische Zeichnungen an. Er zeigte auf, dass eine Note in drei Phasen zu spielen sei: In der ersten Phase sollten die Muskeln in dem Moment entspannen, da sie über die Fingerkuppe Gewicht abgäben, in der zweiten Phase sollte es zu einem Rückpralleffekt kommen, der durch das Zusammenziehen der Beugemuskeln bewirkt würde, und am Schluss sollte die Ruhephase erfolgen, wenn der Finger in der Luft schwebe. Auf diese Weise, so Scaramuzza, würde keinerlei Energieverlust entstehen. In ihren Schriften zur pianistischen Technik führt seine Schülerin María Rosa Oubiña de Castro (Cucucha genannt) die Aspekte aus, die die Qualität einer Technik bestimmen: die richtige Dosierung von Gewicht, die Entwicklung einer hohen Empfindsamkeit der Fingerkuppen, die Bewusstmachung des Verlaufs der Berührung und eine
gleichmäßig verteilte Kraft in den Fingern. Scaramuzza war der Meinung, das natürliche Gewicht der Arme und die Kraft des Handgelenks seien zwei entgegengesetzte Kräfte, die an einem ganz bestimmten Punkt in der Mitte des Unterarms aufeinanderträfen. Die Hand, der Unter- und der Oberarm müssten ein »S« bilden, um die Fingerfertigkeit eines Cembalospielers zu erlangen, und ein »C«, um das cantabile einer lyrischen Melodie vollständig zum Ausdruck zu bringen. »Stellt euch vor, ihr wärt eine Krake mit Tentakeln, an deren Ende sich Saugnäpfe befinden«, dozierte er. Der alte Maestro bestand auf einer Artikulation Finger für Finger, auf Elastizität, auf Vermeidung unnötiger Gesten. Er hatte viel nachgedacht und eine Methode gefunden, wie man sämtlichen technischen Schwierigkeiten bei welchem Tempo auch immer begegnen konnte. Seine Überzeugung, dass die Intensität des Tons von der Geschwindigkeit des Anschlags abhänge, verlieh seinem Spiel eine beeindruckende Spanne in der Dynamik. Dank seiner perfekten Kenntnis der Anatomie des Armes und der Schulter konnte er mit schlafwandlerischer Sicherheit diagnostizieren, wo ein bestimmtes technisches Problem herrührte. Die über die Klaviertastatur dahinfliegenden Hände Martha Argerichs zeigen auf eindrucksvolle Weise die Simultaneität von Spannung und Entspannung der Finger, die Präzision und Schnelligkeit der Bewegungen – Prüfsteine der pianistischen Technik. Wenn sie nicht in der Nähe war, behauptete der erhabene Professor übrigens gern, ihre Hände seien »fürs Klavierspiel wie gemacht«.
    Scaramuzza war berühmt dafür, dass er sich permanent von einer Stunde auf die nächste widersprach. Dies lag nicht etwa daran, dass er vergesslich, oberflächlich oder unsicher gewesen wäre. Nein, dies war existenzieller Bestandteil seiner genialischen Art zu unterrichten. Eines Tages hatte er einem seiner Schüler aufgegeben, eine Woche lang eine spezielle Staccato-Technik zu üben, indem er mit den Fingern so auf die Tasten tippen sollte, als wollte er sie von einem Staubkörnchen befreien. In der nächsten Stunde brüllte er: »Ich habe dir nicht aufgegeben, dein Klavier zu putzen! Cretino !« Der arme Junge versank im Erdboden. »Dummköpfe haben hier nichts zu suchen, nicht in meinem Unterricht!«, schrie er vollkommen außer sich. In der Regel korrespondierte seine schlechte Laune mit seinen Asthmaanfällen, die seine Gemütslage aufs Empfindlichste beeinflussten und von denen man nicht wusste, ob sie real oder simuliert waren. Wenn seine Kleidung Spuren von Inhalationsstoffen trug, musste man sich auf das Schlimmste gefasst machen. Nach dem Tod seiner Tochter wurde sein Charakter noch düsterer. Wenn er die Stimme gegen Martha erhob, brach Juanita, die keineswegs leicht zu erschüttern war, regelmäßig in Tränen aus. Die junge Virtuosin selbst verzog keine Miene und schaffte es mithilfe eines bestimmten Ablenkungsmanövers, kein einziges Mal zu weinen: Sie konzentrierte sich mit allen Kräften auf die Warze, die einen seiner Nasenflügel zierte.
    Wie auch immer er gelaunt war, Scaramuzza kultivierte die Kunst des Widerspruchs, um seine Schüler aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen und sie auf diese Weise dazu zu zwingen, ihren Horizont mehr und mehr zu erweitern. Den einen Tag galt es, eine bestimmte Passage mit gehobenen Handgelenken zu spielen, den anderen Tag verlangte er genau das Gegenteil. Wenn man das, was er forderte, ohne nachzudenken eins zu eins ausführte, konnte er wahnsinnig werden. »Ich glaube, er wollte, dass die Schüler die verschiedenen Möglichkeiten selbst erkannten und
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