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Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel
Autoren: Kathrin Lange
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Kapitel 1
    Manchmal waren es nur Kleinigkeiten, die Kim an den Tod von Nina erinnerten. So wie an diesem Montagvormittag.
    Sie saß auf einer der Bänke in der Eingangshalle der Schule, hatte ihre Englischmappe auf dem Schoß und versuchte zu lernen. Vor einem der Terrarien des Schulzoos, die an der Wand aufgereiht waren, standen zwei Fünftklässler und starrten mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen durch die Scheibe.
    »Kannst sagen, was du willst«, sagte der eine enttäuscht. »Ich glaube nicht, dass in dem Ding da wirklich eine Echse hockt!«
    »Dornschwanz« hatte jemand auf das Schild neben dem Terrarium geschrieben und angeblich befand sich in dem Gefäß eine hässliche, dickschwänzige Echse mit warzigem Rücken und krummen Beinen. Allerdings war sie nachtaktiv. Jedenfalls ließ sie sich während des Schulbetriebes so gut wie nie blicken. Und das führte dazu, dass unter den Fünftklässlern jedes Jahr aufs Neue die Diskussion entbrannte, ob diese Echse wirklich existierte oder nicht.
    Kim lächelte vor sich hin, als sie daran dachte, wie sie vor ein paar Jahren selbst vor dem Terrarium gestanden und sich diese Frage gestellt hatte.
    Nina hatte sie ausgelacht.
    Der Gedanke schoss Kim wie ein Blitz durch den Kopf. Ihr Lächeln zerfiel. Reflexartig presste sie die Fingerspitzen gegen die Schläfe, als könnte sie so die Erinnerungen zurückdrängen, zurück in das schwarze Loch, aus dem sie gekommen waren.
    Die Erinnerungen an DAS BÖSE …
    »He! Guck mal, Luca!«, hörte sie einen der Fünftklässler sagen. »Wie blöd die glotzt!« Ganz ungeniert starrte der Junge Kim an. Er hatte halblange Haare, die er sich kunstvoll zu einer Justin-Bieber-Frisur gestylt hatte.
    Sie wich seinem Blick nicht aus, bemühte sich um eine möglichst neutrale Miene. Aber sie spürte, dass sie ihr Gesicht nicht unter Kontrolle hatte. Ganz sicher sah man ihr das Entsetzen an, das die Erinnerung bei ihr ausgelöst hatte. Es fühlte sich so an, als seien ihre Wangen, der Kiefer, die Lider und auch Stirn und Schläfen zu Eis erstarrt.
    Luca schien ihr Blick unangenehm zu sein. »Komm schon!«, drängte er seinen Freund. »Ist doch egal!«
    Der Blonde warf mit einer ruckartigen Bewegung seinen etwas zu langen Pony aus dem Gesicht. »Das ist bestimmt diese Irre aus der Neunten, vor der uns Leon gewarnt hat«, sagte er. Er hatte das Kinn vorgeschoben und starrte Kim herausfordernd an.
    »Buh!«, machte sie und verspürte Vergnügen dabei, ihn zusammenzucken zu sehen. Schnell wandte er sich ab und rannte mit langen Schritten quer durch die Eingangshalle. Zusammen mit seinem Freund verschwand er durch die Glastür, die in den Trakt der fünften Klassen führte.
    Seufzend warf Kim einen Blick in Richtung des Dornschwanzes. »Du hast es gut«, murmelte sie. »Unsichtbarsein ist eine ziemlich clevere Idee!«
    Besser jedenfalls, als von den Frischlingen aus der Fünften für eine Irre – einen Freak – gehalten zu werden, dachte sie verbittert.
    »Redest du oft mit Tieren?«
    Die spöttische Stimme erklang direkt neben ihr. Sie wandte den Kopf und ihr Blick fiel auf einen lang aufgeschossenen Typen mit einer schwarzen Jeansjacke. Die blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn und in seinen Augen erkannte sie einen eigenartig ernsthaften Ausdruck.
    »Nur mit unsichtbaren«, antwortete sie.
    »Oh, Ernie ist nicht unsichtbar. Nur verpennt.«
    Kim runzelte die Stirn. »Ernie?«
    Da lachte der Junge und deutete auf das Terrarium. »So haben wir ihn getauft, als ich damals in der fünften Klasse war.« Er zuckte mit den Schultern. »Ist schon ’ne Weile her.«
    Kim betrachtete ihn genauer. Er wirkte fast schon erwachsen. Sie schätzte, dass er in die zwölfte, vielleicht sogar schon in die dreizehnte Klasse ging. An der Schule hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen, aber das musste nicht viel heißen. Die Albert-Einstein-Gesamtschule hatte immerhin über tausendfünfhundert Schüler.
    »Klar«, sagte sie und wollte sich wieder ihrem Englischtext zuwenden.
    Der Junge trat einen Schritt näher an die blau gestrichene Sitzgruppe heran, die Kim sich zum Lernen ausgesucht hatte. »Bist du arrogant oder einfach nur schüchtern?«
    Nichts von beidem. Nur ein Freak mit Albträumen und einem Knall.
    Sie unterdrückte ein Seufzen. »Weder – noch, schätze ich. Ich versuche nur, das hier zu kapieren!« Sie fand ihren Tonfall ziemlich abweisend, aber der Typ schien davon völlig unbeindruckt zu sein.
    »Englisch? Zeig mal!« Ohne eine Reaktion von
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