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Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel
Autoren: Kathrin Lange
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hatte sie fast alle ihre Möbel zertrümmert. Ihre Mutter hatte das zum Anlass genommen, den gesamten Raum zu renovieren. Kim hatte sich die Wandfarbe und die Stoffe für Vorhänge und Teppiche aussuchen dürfen. Am liebsten hätte sie Schwarz genommen, aber sie wusste, dass ihre Mutter sich ohnehin schon Sorgen um sie machte, und Schwarz als schlimmes Zeichen interpretieren würde. Aber da Libellen in allen möglichen Farben schimmerten und Kim seit Ninas Tod alles Bunte verhasst war, hatte sie sich für Weiß entschieden. Klinisches, reines, neutrales Weiß. Keine Bilder. Und keinerlei Deko oder Schmuck.
    Nichts.
    Das schien ihr angemessen für den Zustand, in dem sie sich befand. Trugen nicht auch Buddhisten bei Beerdigungen Weiß als Zeichen der Trauer? Manchmal überlegte Kim, Buddhistin zu werden.
    Jetzt warf sie sich der Länge nach auf ihr Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte aus dem Fenster, vor dem ein alter Apfelbaum seine Zweige bis fast an die Scheibe reckte. Früher waren Nina und Kim an seinem Stamm heimlich nach unten geklettert, wenn sie für irgendeine gemeinsame Aktion Zimmerarrest bekommen hatten …
    Eine ganze Weile blieb Kim völlig erstarrt liegen, bis ihr Körper anfing, wie verrückt zu kribbeln, dann riss sie sich zusammen und richtete sich wieder auf.
    Über dem Kopfende des Bettes hing ein Regal mit ihren Lieblingsbüchern. Neben einer Reihe von Vampirromanen stand dort auch ein dünner Band mit Texten von William Blake. Nina hatte Blake geliebt und Kim brachte es nicht übers Herz, das Buch wegzuwerfen, auch wenn sie selbst all die Verse von Göttern und Geistern und die ständige Beschäftigung mit Gut und Böse nicht leiden konnte. Neben dem Buch von Blake stand ein dickes Notizbuch, gebunden in dunkelroten Samt.
    Kim zog es heraus und hielt es einen Moment unschlüssig in der Hand.
    Es war Ninas Tagebuch.
    Nach ihrem Tod hatte die Polizei es beschlagnahmt, weil man gehofft hatte, darin irgendwelche Anhaltspunkte für die Tat zu finden. Doch diese Hoffnung war vergeblich gewesen und so hatten Kim und ihre Mutter das Tagebuch vor ein paar Monaten zurückerhalten, mit der Bitte, es aufzuheben. Man würde vielleicht noch einmal darauf zurückkommen, sollten sich irgendwann neue Spuren ergeben.
    Zögernd schlug Kim das Buch auf.
    Es enthielt die üblichen Einträge, wie man sie im Tagebuch einer Fünfzehnjährigen erwartet: Irgendwelche ständig wechselnden Schwärmereien für Jungs aus ihrer eigenen oder der Parallelklasse. Geläster über Lehrer und Mitschüler. Hin und wieder hatte Nina auch ihre Sorgen aufgeschrieben – über eine verpatzte Klassenarbeit oder Streit mit einer Freundin. Alles nur harmlose Geschichten, ohne auch nur den kleinsten versteckten Hinweis auf ihren Mörder.
    Aber dann war da noch dieses rätselhafte Gedicht, das Nina an einem der letzten Tage vor ihrem Tod geschrieben hatte. Kim hatte es in den vergangenen zwei Jahren mindestens tausendmal gelesen und konnte es längst auswendig. Trotzdem huschte ihr Blick über die zierlichen, eng geschriebenen Zeilen, als sie es vor sich hin murmelte:
    »Töte mich zärtlich, Liebster!
Denn bis zum anderen Ufer der Nacht
ist es ein endloser Tunnel,
ein finsterer Schacht.
Seit die wolfsgelben Augen
kholenschwarz wurden
und die lautlosen Pfoten
des Wolfes
mir ihre Krallen ins Herz schlugen.
Der Hirsch,
der meine Geheimnisse kennt,
hat gesehen,
wie der flirrende Schatten des
Todes
auf mich gefallen ist.«
    Kims Blick blieb an der ersten Zeile des Gedichtes hängen.
    Töte mich zärtlich, Liebster!
    Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Sonntag vor zwei Jahren, zu jenem Augenblick am Nachmittag, als ihr Handy geklingelt hatte …
    Kim schloss die Augen, so fest sie konnte.
    Nicht dran denken!, befahl sie sich. Ruhig atmen! Das alles ist schon lange vorbei!
    Seufzend öffnete sie wieder die Augen und schluckte. Sachte strich sie mit der Fingerkuppe über das Papier des Tagebuchs.
    »Liebeskummer« hatte Nina das Gedicht genannt, als sie es geschrieben hatte, aber irgendwann später – niemand wusste, wann und warum – hatte sie diesen Titel durchgestrichen und durch einen anderen ersetzt.
    Schattenflügel.
    In dunkelroter Tinte hatte Nina dieses eine Wort über ihre rätselhaften Zeilen geschrieben.
    Schattenflügel.
    Was auch immer das bedeuten sollte!
    Während Kim weiter über den seltsamen Titel nachgrübelte, kehrte die eben noch verdrängte Erinnerung zurück.
    Der besagte Sonntag. Ein langweiliger
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