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Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel
Autoren: Kathrin Lange
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versammelten sich gern ganz hinten, möglichst weit weg vom Busfahrer. Kim war froh, hier vorne ihre Ruhe zu haben. In der Plexiglasscheibe hinter dem Fahrer betrachtete sie ihr Spiegelbild: über dem schwarzen T-Shirt das blasse Gesicht und die hellbraunen Haare, die sie – wie immer – zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie versuchte, ihren eigenen Blick einzufangen, aber das Bild war zu unscharf. Es gelang ihr nicht, sich an sich selbst festzuhalten. Nur dass ihr Pony zu lang war, das bemerkte sie erneut.
    Als sie zu Hause ankam und die Haustür aufschloss, drang ihr der Geruch von gebratenem Fleisch und Pommes in die Nase.
    »Sigurd?«, rief sie, während sie ihre Tasche in die Ecke warf und die Jacke aufhängte. »Ich bin da!«
    »Schön!«, kam es aus der Küche.
    »Riecht gut«, log sie. In Wahrheit war ihre Kehle so eng, dass sie nicht einen einzigen Bissen herunterbekommen würde.
    Als sie die Küche betrat, wandte sich Sigurd vom Herd ab und warf Kim einen langen Blick zu. Er war so was wie ihr Stiefvater. Wie immer, wenn er zu Hause war, trug er Jeans und ein Hemd, das ihm lose über den Bund hing und seinen durchtrainierten Bauch verbarg. Kim erkannte, dass er sich heute Morgen nicht rasiert hatte. Das bedeutete, dass er das Haus nicht verlassen und den ganzen Vormittag über geschrieben hatte. Sigurd war Journalist und nebenbei Extremsportler. Seine blonden Haare hingen ihm bis auf die Schultern herab und seine Haut war gebräunt von seinem letzten Auslandsaufenthalt, von dem er vor Kurzem erst zurückgekehrt war.
    »Was ist passiert?«, fragte er. Er hatte eine weiche, sehr tiefe Stimme.
    Kim biss die Zähne zusammen. »Kann man dir eigentlich gar nichts vormachen?«, knurrte sie. Widerwillen machte sich in ihr breit. Fang jetzt bloß nicht an, mich auch noch zu bemuttern, dachte sie bei sich.
    Sigurd grinste breit. Seine Zähne waren makellos und weiß und unwillkürlich musste Kim an den schief stehenden Eckzahn von Lukas denken. »Berufskrankheit«, sagte er. »Ich bin gezwungen, so genau wie möglich zu beobachten!« Er zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und nötigte sie, sich darauf zu setzen.
    Der Tisch war bereits gedeckt, Teller und Besteck lagen bereit. Zu Kims Erleichterung hatte Sigurd auf Servietten verzichtet. So einen Ausbruch von Häuslichkeit hätte sie im Moment nur schwer ertragen.
    Jetzt schaltete er die Platte, auf der die Schnitzel brutzelten, auf die kleinste Stufe und setzte sich Kim gegenüber. »Erzähl! Was ist dir über die Leber getrampelt?«
    Normalerweise hätte Kim über diesen Ausdruck gelächelt. Früher hatte Sigurd ihn immer benutzt, wenn er sie vom Weinen ablenken wollte. Heute jedoch fühlte sich alles in Kim so wund an, dass sie nicht einmal so tun konnte, als amüsiere sie sich über Sigurds Wortwahl.
    Seine Stirn legte sich in Falten. »So schlimm?« Er zog eines der altmodischen Taschentücher hervor, die er immer bei sich hatte, und wollte es ihr reichen.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich musste vorhin nur an Nina denken«, sagte sie. Insgeheim hatte sie gehofft, dass ihn das betroffen machen würde, und so war es auch. Er zuckte zusammen, als sie den Namen ihrer Schwester erwähnte. Mit einem Anflug von Grausamkeit fügte sie hinzu: »Im Biosaal haben wir so eine Tafel mit Insekten. Da sind auch ein paar Libellen darauf!«
    Sigurd seufzte tief und steckte das Taschentuch wieder weg. »Du Arme!« Er langte über den Tisch und griff mit beiden Händen nach Kim. Dabei fiel ihr Blick auf den dicken Silberring, den er am Finger trug. Es war ein indianisches Schmuckstück, das er von einer seiner vielen Reisen nach Nordamerika mitgebracht hatte. Ein Adlerkopf zierte den Ring, der Kim schon immer zu protzig und schwer vorgekommen war. Sie schauderte. Etwas in ihr wollte, dass Sigurds Berührung sich unangenehm und aufdringlich anfühlte, aber das tat sie nicht. In Wahrheit war sie tröstlich und angenehm.
    Kim schluckte, weil sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Sie wollte jetzt nicht heulen. Auf keinen Fall! »Es ist nur …« Genervt von sich selbst schüttelte sie den Kopf, doch sie konnte den Gedanken nicht loswerden, der plötzlich in ihrem Kopf zu kreisen begannen. Eine Weile rang sie um Worte. Sigurd saß nur da und hielt ihre Hände in den seinen. Er streichelte sie nicht, was sie wahrscheinlich auch nicht ertragen hätte. Wartend sah er ihr ins Gesicht.
    »Ich habe vorhin zwei Fünftklässler beobachtet«,
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