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Neben Der Spur

Neben Der Spur

Titel: Neben Der Spur
Autoren: Ella Theiss
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DURCHGEKNALLT
    Ruhig, Hermann! Bleib ruhig! Sie sind in friedlicher Absicht gekommen. All das Murmeln und Plappern, das exaltierte Wedeln, mit dem sie sich mal hierhin, mal dorthin begeben, es hat nichts Böses zu bedeuten – nichts Böses zu bedeuten. Es ist ihnen eigen, wie dein Hüsteln in kühlen Räumen und das gelegentliche Zittern deiner Knie dir nun einmal eigen sind. Diese Spezies ist harmlos, hat Gudrun gesagt. Auch das Blitzgewitter, das Piepen und Summen aus allen Ecken, das schwarze Gewürm am Boden, lästig, aber harmlos. Nur dass du dich nicht dazwischen begibst, Hermann! Bleib in deinem Rollstuhl und rühr dich nicht von der Stelle! Du kennst deinen Text. Herzlichen Dank für Ihr Kommen … Ich begrüße Sie auch im Namen meiner Familie … Nein, warte, deine Rede kommt später. Nicht jetzt. Jetzt spricht Gudrun mit ihnen. Gudrun kann das.
    Unsere Gudrun! Weißt du noch, wie man sie dir in den Arm drückte? Ein schrumpelhäutiges Bündel, das sein Hu-äääh, Hu-äääh wie eine Sirene hinausgreinte. Alle liefen davon, angeblich, weil dringliche Tagesgeschäfte es erforderten. Du bliebst mit ihr allein, hast sie im Arm gewiegt, gegen die Fensterscheiben getrommelt, sie an deiner Taschenuhr horchen lassen. Bis ihr Gekreisch abschwoll und einer freundlichen Aufmerksamkeit wich. Du ganz allein konntest den kleinen Schreihals bändigen. So liebevoll, so fürsorglich hast du dich selbst nicht gekannt, was alter Hermann?
    Da, schau, wie unsere Gudrun heute zwischen all diesen Fremden umhergeht, Fragen beantwortet, Einwände vorbringt, mit leiser fester Stimme. Wie sie sich zu dem am Boden kriechenden, all die Kabel sortierenden Gnom herabbeugt, ihn bittet, die Berberteppiche zu schonen. Wie sie sich unmerklich reckt, um dem Lulatsch mit dem Leuchtkörper auf Augenhöhe zu begegnen, ihn ermahnt, nur ja die beiden Thoma-Aquarelle nicht direkt anzustrahlen, der Farben wegen. Und allen mit der gleichen hoheitsvollen Freundlichkeit zunickt, die schon ihrer Großmutter eigen war. Bloß die Kerbe über der Nasenwurzel und die zusammengebissenen Zähne hinter den lächelnden Lippen lassen ahnen, dass unsere Gudrun sich nichts gefallen lässt – nichts gefallen lässt.
    Ja, die Meute. Auch wenn sie harmlos ist, was würde sie alles anstellen, wenn Gudrun nicht dazwischenginge!
    Weißt du noch, wie wir damals zitterten vor der Meute, siebenundvierzig, als sie das Haus belagerten wie eine Schar Krähen das siechende Lamm? Wie sie alle eingeschüchtert haben, sogar unseren stolzen Herrn Vater? Ihre Fotoapparate waren schwer und schwerfällig, verfehlten oft den richtigen Moment. Dafür waren ihre Fragen scharf. Und ihre gespitzten Bleistifte stenografierten, was sie glaubten, das wir zu antworten hätten. Zumal wir nichts zu antworten wussten. Wie gut sich doch alles über all die Jahre gefügt hat – über all die Jahre gefügt hat. Nun feiert sie dich, die Meute. Alle diese Journalisten feiern dich. Morgen ist dein hundertster Geburtstag, Hermann. Und du kommst ins Fernsehen!
    Du kennst deinen Text. Herzlichen Dank für Ihr Kommen, ich begrüße Sie auch im Namen meiner Familie, bitte beachten Sie unser Informationspaket … Als ich meinen Freund Werner Kollath 1940 in Rostock traf, sagte er zu mir, lasst unsere Nahrung so natürlich wie möglich, und so habe ich im Jahre … Nein, das nicht. Das sollst du nicht sagen. Nie mehr. Das war damals. Jetzt sagst du nur: Herzlichen Dank für Ihr Kommen, ich begrüße Sie auch im Namen meiner Familie, bitte beachten Sie unser Informationspa…
    Da … war das … ein Knall? Kam von draußen! Ein Schuss? – Ruhig, Hermann, das ist ein Salut. Ein Salut zu deinem Geburtstag. Gleich spielt die Kapelle. Ich hatt’ einen Kameraaaden, einen bessern findst du nit … Keine Kapelle, die Meute erstarrt … reißt die Augen auf … keiner bewegt sich … wer sich bewegt, wird erschossen … erschossen … Noch ein … Schuss? – Granaten von der Brücke her … Verschanz dich, verschanz dich, alles voller Blut und Asche … von der Brücke her … Das Bein, das Bein zerfetzt, besser als der Kopf … besser als der Bauch … Bei einem Bauchschuss, da bist du dran … da kannst du den Löffel abgeben, da krepierst du elendiglich … Überall Blut und Asche … einen Kameraaaden … der ging an meiner Seite … als wär’s ein Stück von mir … wie das Bein, das zerfetzte … ein Stück von dir … Ach, so viel Blut und Asche! Ist denn Krieg, Gudrun? Schon wieder
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