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Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel
Autoren: Kathrin Lange
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flüsterte Kim endlich. »Und da musste ich daran denken, wie ich selbst in der fünften Klasse war.« Sie schniefte, aber sie konnte jetzt nicht mehr verhindern, dass ihre Augen überliefen. »Damals hat Nina noch gelebt«, fügte sie sehr leise hinzu.
    »Es muss schrecklich sein«, sagte Sigurd.
    Kim entzog ihm ihre Hände. Die Schnitzel auf dem Herd brutzelten noch immer vor sich hin und langsam machte sich ein leichter Brandgeruch in der Küche breit. Es kümmerte sie beide nicht.
    »Das Schlimmste ist«, flüsterte Kim und wischte sich die Tränen fort, »dass alles immer völlig unerwartet wieder da ist. Diese überfallartigen Erinnerungsschübe, wenn man eigentlich glaubt, endlich darüber weg zu sein …« Sie schluckte schwer. Dann erhob sie sich. »Nimm es mir nicht übel«, murmelte sie, »aber ich glaube, ich habe keinen Hunger.«
    Sigurds Blick huschte zu den vor sich hin kokelnden Schnitzeln. »So wie es aussieht«, versuchte er sich an einem unbeholfenen Scherz, »ist das nicht weiter tragisch.«
    *
    Zwei Jahre war es nun schon her, dass ihre zwanzig Monate ältere Schwester Nina nach einem Kinobesuch nicht nach Hause gekommen war. Immer wieder durchlebte Kim jede einzelne Minute dieses einen, alles entscheidenden Sonntagabend. Sie sah alles vor sich, als sei es gestern gewesen. Zusammen mit ihrer Mutter hatte sie auf dem Sofa gesessen und gewartet. Im Fernsehen lief ein Tatort, den sie eigentlich mit Nina zusammen anschauen wollten. Kim erinnerte sich noch daran, dass sie sich erschrocken hatte, als auf dem Bildschirm Schüsse fielen.
    Nina war nicht durch Schüsse gestorben.
    Die drei Tage nach Ninas Verschwinden waren die schlimmsten in Kims Leben gewesen. Immer wieder hatten sie und ihre Mutter versucht, Nina auf dem Handy zu erreichen, aber vergeblich. Dort hatte sich nur die automatische Ansage gemeldet, die verkündete, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar war. Die Angst, ihrer Schwester könnte etwas Schlimmes passiert sein, die Ungewissheit darüber, wo sie war – das alles hatte sich angefühlt wie ein Schraubstock, der sich langsam immer fester um Kims Körper schloss.
    Am Donnerstag darauf klingelte es dann an der Tür. Kim saß in ihrem Zimmer und machte Hausaufgaben, aber von einer ungewissen Ahnung getrieben, lief sie auf den Flur hinaus. Von dem oberen Treppenabsatz konnte sie die Haustür sehen – und ihre Mutter, wie sie die Tür öffnete. Kim sah, wie sie zurücktaumelte.
    Vor der Tür standen zwei Polizisten.
    Ruhige, verständnisvolle, mitfühlende Menschen in Zivil. Doris Keller und Jan Weidenschläger hießen sie. Kriminalkommissare. Was sie genau gesagt hatten, wusste Kim nicht mehr. Aber es war von einer Leiche die Rede gewesen und von dem Waldschlösschen, einer Ruine, anderthalb Kilometer außerhalb der Stadt. Während die Polizisten sprachen, ging Kim langsam die Treppe hinunter. Vor der Tür zum Wohnzimmer, in das die Erwachsenen sich zurückgezogen hatten, blieb sie stehen. Aus irgendeinem Grund schaffte sie es nicht, den Raum zu betreten. Die Tür war nur angelehnt und so sah sie, wie die Polizistin ihre Mutter auf das Sofa drückte und ihr den Arm um die Schultern legte. »Ich fühle mit Ihnen«, sagte sie, aber Kims Mutter schrie sie an: »Was erlauben Sie sich? Haben Sie Kinder?« Als Frau Keller beklommen nickte, klappte Kims Mutter den Mund zu und für drei oder vier Minuten sagte sie gar nichts. »Hat man eines von ihnen tot im Wald gefunden?«, flüsterte sie dann.
    In diesem Moment erst begriff Kim, weswegen die Polizisten gekommen waren. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und musste sich am Türrahmen abstützen. Ein Wimmern stieg in ihrer Kehle hoch. Sie stopfte sich die Faust in den Mund, um nicht loszuschreien.
    Die darauf folgenden Ermittlungen hatten Monate gedauert. Jeden Stein hatten Keller und Weidenschläger mit ihrer Mordkommission in der Stadt umgedreht, jeder noch so kleinen Spur waren sie nachgegangen. Vergeblich! Auch zwei Jahre nach dem Mord war der Täter immer noch auf freiem Fuß. Seit jener Zeit war Kim die Tatort-Titelmelodie unerträglich. Genauso wie der Anblick von Libellen aller Art.
    *
    Während Sigurd die verkokelten Schnitzel entsorgte, ging Kim die Treppe hoch und verzog sich in ihr Zimmer. Der Raum bot ihr Zuflucht vor der Vergangenheit und den Erinnerungen, und das, obwohl sie ihn früher mit Nina geteilt hatte. Ungefähr zehn Monate nach Ninas Tod hatte Kim eine unglaubliche Wut gepackt. In einem Anfall von Raserei
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