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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann
Autoren: L Murray
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Prolog
    Von meiner Mutter besitze ich nur noch ein einziges Foto. Es ist schwarz-weiß, zehn mal achtzehn Zentimeter groß und an verschiedenen Stellen zerknittert. Sie sitzt darauf leicht nach vorn gebeugt, die Ellbogen berühren ihre Knie, die Arme tragen das gesamte Gewicht des Rückens. Ich weiß nur sehr wenig über ihr Leben zum Zeitpunkt dieses Fotos, und mein einziger Anhaltspunkt steht mit orangefarbenem Leuchtstift auf der Rückseite: Ich vor Mike’s auf der 6th Street , Greenwich Village , 1971 . Rechne ich zurück, dann weiß ich, dass sie siebzehn Jahre alt war, als es aufgenommen wurde, ein Jahr älter als ich im Augenblick. Ich weiß auch, dass die 6th Street in Greenwich Village liegt, habe aber keine Ahnung, wer Mike ist.
    Das Foto verrät mir, dass sie als Teenager sehr ernst aussah. Gedankenverloren presst sie die Lippen zusammen, was wie eine Grimasse für die Kamera wirkt. Ihre Haare, wunderschöne Locken in Form aufsteigender schwarzer Rauchfahnen, umrahmen ihr Gesicht. Und ihre Augen, der schönste Teil an ihr, wie ich finde, glänzen auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme wie zwei dunkle Murmeln, für immer eingefroren in ihren Bewegungen.
    Ich habe jeden ihrer Gesichtszüge eingehend studiert und meiner Erinnerung auf dem Weg zum Spiegel anvertraut, vor dem ich
dann mein eigenes gewelltes Haar öffne. Ich stehe da und zeichne in meinem Gesicht mit der Fingerspitze Ähnlichkeiten des Verlaufs jeder einzelnen Linie nach, beginnend mit den Augen. Sie sind gleich klein und gleich rund, doch statt den braunen Augen meiner Mutter habe ich die tiefgrünen meiner Großmutter geerbt. Als Nächstes vermesse ich die Form unserer Lippen, die schmal sind, geschwungen und völlig identisch. Doch auch wenn wir uns in einigen Punkten ähneln, weiß ich genau, dass ich nicht so hübsch bin wie sie damals.
    Ma, 6th Street, Greenwich Village, 1971
    In all den Jahren ohne eine feste Bleibe, hinter verschlossenen Badezimmertüren in Wohnungen verschiedenster Freunde, habe ich dieses Spiel im Spiegel heimlich die ganze Nacht lang gespielt. Meine Freunde, von ihren Eltern ins Bett gesteckt, schlafen, während von den anmutigen Bewegungen meiner Mutter erfüllte Bilder in meinem Kopf herumtanzen. So verbringe ich diese Stunden vor
ihren Badezimmerspiegeln, meine nackten Füße kalt von den Fußbodenfliesen, die Handflächen auf den Rand des Waschbeckens gepresst, um mein Gewicht aufzufangen.
    Ich fantasiere dort, bis die ersten blauen Spuren der Morgendämmerung mühsam durch das Milchglas des Badezimmers eindringen und Vögel mit ihrem Morgengezwitscher auf sich aufmerksam machen. Bin ich bei Jamie, ist das genau der Moment, schnell wieder auf die Couch zu schlüpfen, bevor der Wecker ihrer Mutter klingelt und sie ins Badezimmer schickt. Bin ich bei Bobby, verrät mir das mahlende Geräusch des Müllautos, dass es an der Zeit ist, zurück auf das Klappbett zu huschen.
    Ich bewege mich still und leise in den zum Leben erwachenden Wohnungen zu meinem Rastplatz vorwärts. Und ich mache es mir in meinen Unterkünften nie allzu gemütlich, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich morgen am selben Ort schlafen werde.
    Liege ich dann auf dem Rücken, führe ich meine Fingerspitzen im Dunkeln über mein Gesicht und vergegenwärtige mir meine Mutter. Die Symmetrie unserer Leben steht mir in letzter Zeit immer deutlicher vor Augen. Sie war auch mit sechzehn obdachlos. Ma hat ebenfalls die Schule abgebrochen. Genau wie ich entschied sie sich jeden Tag neu für Hausflur oder Parkanlage, U-Bahn oder Hausdach. Die Bronx, das bedeutete auch für Ma Umherirren auf gefährlichen Straßen, durch Viertel mit von Fahndungsbildern der Polizei beklebten Laternenpfosten, und die ganze lange Nacht Sirenengeheul.
    Ich frage mich, ob Ma, genau wie ich, jeden Tag Angst davor hatte, wie es mit ihr weitergeht. Ich habe seit Kurzem nur noch Angst. Ich überlege, wo ich morgen schlafen werde – in der Wohnung eines anderen Freundes, im Zug oder in irgendeinem Treppenhaus?
    Beim Führen meiner Fingerspitzen über die Stirn und dann hinunter zu den Lippen sehne ich mich nach dem warmen Körper meiner Mutter, die mich wieder in den Arm nimmt. Bei diesem Gedanken schießen mir Tränen in die Augen. Ich drehe mich auf
die Seite, wische die Tränen weg und hülle mich in meine geliehene Decke.
    Ich verbanne das Gefühl aus meinem Kopf, sie zu brauchen. Ich verbanne es weit hinter diese mit Bildern von Bobbys Familie geschmückten Wände, weit hinter die
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